Gründungsmitglied von „Yo Soy 132“ über den mexikanischen Frühling, der keiner war
Mexiko-City. Ich sitze mit Nacho im Café de Carlo in der Colonia Roma. Um’s Eck ein gut sortiertes, dreistöckiges Buchgeschäft mit Bar im Obergeschoß, ein nettes Café reiht sich hier an’s nächste und immer wieder flitzt ein Eco-Bici – so heißen die City-Bikes hier – an uns vorbei. Zu Recht wird dieses Stadtviertel als einer der Lieblings(wohn)orte der jungen, gebildeten Chilangos* bezeichnet. Eigentlich wollten wir uns ja im Cine Tonalá treffen, einem alternativen Programmkino mit äußerst gemütlichem Barbereich, aber das hat montags leider geschlossen.
Nacho ist freischaffender Filmemacher und war einst Gründungsmitglied der Bewegung #Yo Soy 132, die im Frühling 2012 – zur Zeit des Präsidentschaftswahlkampfes – für ziemlichen Aufruhr sorgte. Begonnen hat alles mit einem Wahlkampfauftritt vom damaligen Präsidentschaftskandidat – und jetztigem Präsident – Enrique Peña Nieto an der nicht gerade für ihre aufständische Klientel bekannten Privatuniversität Iberoamericana in Mexiko-Stadt. Die Debatte entwickelte sich allerdings zum Eklat, als Peña Nieto auf die Menschenrechtsverletzungen, die er als Gouverneur des Bundesstaates Estado de México zu verantworten hatte, angesprochen wurde. Unter Buhrufen musste er den Uni-Campus verlassen. Als die Massenmedien dann von einem „Erfolg Peña Nietos“ an der Ibero berichteten und die protestierenden StudentInnen als „von der Opposition bezahlte, universitätsferne Jugendliche“ darstellten, war das Maß für Nacho und seine compas voll: als Protestkundgebung produzierten sie ein Video, in dem 131 StudentInnen ihre Überzeugung, warum sie an den Protesten an der Ibero teilgenommen hatten, zum Ausdruck brachten, ihren Studentenausweis dabei in die Kamera haltend. Unzählige, vor allem junge MexikanerInnen posteten das Video in ihren sozialen Netzwerken mit dem solidaritätsbekundendem Zusatz: „Ich bin der/die 132.“ – die Bewegung #Yo Soy 132 war geboren. Alles weitere ist Geschichte: es folgten Massenproteste im ganzen Land und darüber hinaus. Auch in Österreich gab es #Yo Soy 132-Solidaritätsgruppen (siehe Wien, Innsbruck).
Sogar von einem mexikanischen Frühling war die Rede. Mit dem Wahlsieg des verhassten Kandidaten Enrique Peña Nieto am 2. Juli 2012 war’s dann aber ziemlich vorbei mit #Yo Soy 132. Die Luft war draußen. Einige Gruppierungen blieben zwar noch länger aktiv und am 1. Dezember 2012, dem Tag der Angelobung Peña Nietos, kam es noch einmal zu größeren Protesten – im Großen und Ganzen war die Bewegung jedoch von der nationalen Bildfläche verschwunden.
Also alle Mühen umsonst, #Yo Soy 132 nicht mehr als ein revolutionärer Mosaikstein in seiner Studentenkarriere? – will ich von Nacho wissen. „Nein, so kann man es nicht sehen“, gibt er mir zur Antwort. „Wir im Kollektiv Más de 131 sind nach wie vor sehr aktiv und treffen uns regelmäßig. Unser aktuelles Projekt ist es, ein alternatives Medium zu gründen, das Inhalte jenseits des Mainstreams produziert.“ Auf meine Frage, was sie damit erreichen wollten, meint Nacho: „Wir wollen wahrhaft über die Geschehnisse im Land informieren und der aktuellen Desinformation entgegenwirken. Angesichts der verbreiteten Apathie erscheint es uns auch sehr wichtig, Empathie und Solidarität zu fördern und den ungehörten Stimmen eine Bühne bieten.“ – Keine kleine Aufgabe! Nacho ist jedoch zuversichtlich: Im Kollektiv befänden sich Journalisten, Graphiker, Politikwissenschaftler und Juristen und alle würden für das brennen, was sie tun.
„Und so wie wir sind nach wie vor viele Ex-132 in ganz Mexiko aktiv“, meint Nacho auf meine ursprüngliche Frage, was denn von der Bewegung übrig geblieben sei. Er spricht von Kommunikationsnetzwerken und aktiven Zellen der Zivilgesellschaft im ganzen Land, die an ihrem jeweiligen Ort Räume für zivilgesellschaftliches Engagement schaffen.
„Wenn du einmal erkannt hast, wie die Realität Mexikos wirklich aussieht, kannst du nicht mehr anders als dich zu engagieren,“ meint er, und nippt an seinem Café Latte.
*Chilangos ist die nicht immer sehr schmeichelhaft gemeinte Bezeichnung für die BewohnerInnen von Mexiko-Stadt.