NINA KUSTURICA: Der Welt treu bleiben
Filmregisseurin und -produzentin Nina Kusturica („Little Alien„) im Gespräch mit KINOSALON-Kurator Ascan Breuer über die Zusammenhänge zwischen ihren Migrationsgeschichten und ihrem Filmschaffen.
Startseite des KINOSALON-Blogs – KINOSALON auf Facebook – Filmprogramm des KINOSALONS
Dieses Interview ist Teil einer Serie im Rahmen des KINOSALONS „East of Vienna, South of the Sun„. In diesem KINOSALON-Blog erscheinen auch Gespräche mit den anderen beteiligten Filmemacherinnen Mara Mattuschka, Kurdwin Ayub und Miriam Bajtala, sowie ein persönliches Statement des Kurators Ascan Breuer.
ASCAN BREUER: Woher kommst du?
NINA KUSTURICA: Aus Bosnien-Herzegowina. Ich bin in Mostar geboren und in Sarajevo aufgewachsen. Als ich 17 Jahre alt war, ist der Krieg ausgebrochen. Da bin ich mit der ganzen Familie zu meiner großen Schwester nach Wien geflüchtet. Die hatte hier an der Musik-Uni Geige studiert. Wir war unter den ersten von den ungefähr 200.000 Flüchtlingen aus Bosnien-Herzegowina, die nach Österreich gekommen sind.
ASCAN: Wer war dabei?
NINA: Vater, Mutter, meine kleine Schwester und Vaters zweite Frau. Eine Patchwork-Family!
ASCAN: Hört sich nach einer komplizierten Konstellation an…
NINA: Ja, aber es ging ja um die Chance irgendwie aus der Stadt herauszukommen, da galt es zusammenzuhalten.
ASCAN: Und ist deine Familie auch ein „jugoslawisches“ Patchwork?
NINA: Ja, die Familie meiner Mutter ist kroatisch aus Split, und mein Vater kommt aus einer muslimischen Familie aus Montenegro, aber ursprünglich aus Herzegowina, da kommen die „Kusturicas“ meistens her. Aber diese Frage nach der Volksgruppenzugehörigkeit wurde damals in Sarajevo noch gar nicht gestellt. Sie ist erst später zum Instrument des Kriegs geworden…
ASCAN: Und die Flucht verlief problemlos?
NINA: Ja, wir kannten den Busfahrer…
ASCAN: Ich meine die legalen Aspekte…
NINA: Wir hatten damals noch jugoslawische Pässe und sind wie Touristen eingereist. Wir durften also erst einmal drei Monate bleiben. Wir bekamen aber keinerlei staatliche Unterstützung, und unser Visum wurde dann immer monatsweise verlängert.
ASCAN: Also konntest du hier auch nicht weiter zur Schule gehen?
NINA: Ich habe ja Gott sei Dank meine Matura noch davor gemacht. Ich wollte mich beeilen, was sehr seltsam war, ich bin eigentlich keine Streberin gewesen. Aber ich habe Tennis gespielt und für die Trainings musste ich manche Fächer außerordentlich machen, deshalb konnte ich noch kurz vor dem Krieg meine Matura machen.
ASCAN: Und wieso bist du jetzt kein Tennisstar?
NINA: Weil ich nach Wien gekommen bin und kein Geld für Trainings hatte. Aber ich wäre auch sonst kein Tennisass geworden. Ich war nicht sehr talentiert, glaube ich. In Wirklichkeit wollte ich Theaterregie studieren, darauf habe ich mich schon in Sarajevo vorbereitet. Meine Mutter ist Theaterschauspielerin und meine Tante auch, deshalb habe ich als Kind viel Zeit im Theater verbracht. Eines der ersten Dinge hier in Wien war, als Gasthörerin ein paar Vorlesungen am Max-Reinhardt-Seminar zu besuchen. Ich habe zuerst kein Wort verstanden, aber dann habe ich auch eingesehen, dass diese Art von Theater hier nicht so meins ist…
ASCAN: Das heißt, du bist zum Film gekommen, weil es hier kein „jugoslawisches“ oder „bosnisches“ Theater gibt.
NINA: Ja, ich würde es vielleicht „slawisches“ Theater nennen. Allerdings besaß ich schon vorher eine kleine Kamera. Damit habe ich ein bisschen gefilmt, aber nicht viel. Ich hatte da meine Berührungsangst mit der Technik, eine große Angst sogar. Ich habe Film und Kino geliebt, aber ich hatte das Gefühl, dass ich das Technische nicht bewältigen kann, das ist mir alles zu spooky. Aber andererseits auch: ‚Okay, man muss sich ja auch durch diese Erfahrung des Krieges, man muss sich den Ängsten doch stellen!‘ Und für Filmregie musste ich noch besser Deutsch lernen. Außerdem musste ich dafür als Achtzehnjährige sowieso erst noch reifen. Dann habe ich überlegt: Wo ist die Filmsprache technisch am meisten gefordert? Wo wird sie am stärksten trainiert? Wo findet sie statt? Bei einem Praktikum habe ich Feuer gefangen und mich dann unendlich in die Schnittkunst verliebt. Daraufhin habe ich als Schnittassistentin gearbeitet und mich später an der Wiener Filmakademie für Schnitt beworben.
ASCAN: ...und wurdest aufgenommen.
NINA: Bei der Aufnahme musste ich allerdings lügen, dass ich genug Geld hätte. Man sagte mir, dass man bei dem intensiven Studium in den ersten Jahren nicht arbeiten dürfe. ‚Ich brauche nicht zu arbeiten,’ habe ich gesagt. ‚Mein Papa hat genug Geld! Wir waren reich in Sarajevo!’ Während des Studiums bin ich dann ich immer um 18 Uhr in die Arbeit gerannt. Und mein Jahrgang hat mich dabei gedeckt, weil ich so ja nicht bei allen Übungen mitmachen konnte.
ASCAN: Eines deiner Werke war der Dokumentarfilm „Little Alien“ (2009), in dem du das Leben von AsylbewerberInnen verfolgst. Trotz deiner alten Liebe zum Theater bist du dann ganz „untheatralisch“ geworden? Wie kam es zur Hinwendung zum Dokumentarischen?
NINA: Das weiß ich gar nicht, wie das geschehen ist. Es ist mir ein Rätsel. Vielleicht ist es die Lust und die Suche nach dem „echten Moment“. Diesen Moment kann man im Spielfilm wirklich nur mit ganz fantastischen Schauspielern erreichen – oder mit Menschen, die genug durchlässig sind, die vor der Linse nicht etwas sein wollen. Ich habe darüber unlängst mit meinem ehemaligen Regieprofessor Peter Patzak gesprochenen. ‚Hey, bei dir ist das so interessant,’ meinte er, wie sich das bei mir zu einer ‚Streetlife Credibility‘ entwickelt habe.
ASCAN: Du hast Theater mit ‚Streetlife‘ eingetauscht…
NINA: Ja, aber für mich war die Arbeit an „Little Alien“ ein großer Schock! Es war extrem. Ich war überhaupt nicht vorbereitet, obwohl ich gedacht habe, dass ich vorbereitet sei. Es hat mich sehr mitgenommen…
ASCAN: Die Lebenshärten des Flüchtlingsdaseins kanntest du doch aus eigener Erfahrung. Was hat dich denn so mitgenommen?
NINA: Im Verhältnis zu den ProtagonistInnen von „Little Alien“ war ich diesem ‚System‘ nicht so ausgeliefert. Vielleicht auch, weil sie im Gegensatz zu mir völlig alleine sind. Und dann wird an der EU-Grenze auch noch ein regelrechter Krieg gegen sie geführt. Das habe ich so nicht gekannt. Ich habe das einfach nicht gewusst, dass Menschen im Namen der Demokratie so behandelt werden. Und mir war auch diese krasse Bevormundung neu. Oder vielleicht hab ich das bei mir nur ausgeblendet, damit ich da durchkomme. Zum Beispiel wie man von der Welt angeschaut wird, das hatte ich ignoriert, dafür hatte ich keine Zeit, keine Energie. Und vieles davon habe ich selbst schlicht deshalb nicht erlebt, weil ich hellhäutig bin. Erst durch die Arbeit an „Little Alien habe ich erkannt, wie Fremde von Politik und Gesellschaft in Österreich und Europa in Empfang genommen werden, mit wie vielen vorgefertigten Bildern.
ASCAN: Kannst du dich daran erinnern, wie du selbst in Österreich in Empfang genommen worden bist?
NINA: Daran kann ich mich sehr gut erinnern – an alles! An den Bus, mit dem wir geflüchtet sind, an die Fahrt, an die Mitflüchtenden… Wer hat uns wie kontrolliert? Die erste Adresse in Wien, und dann die vielen weiteren Adressen, die Kellerwohnungen, das ist alles noch immer sehr präsent und klar. Aber es hat zehn Jahre gedauert, bis dann jeder von uns für sich selbst eingesehen hat, dass das damals jener Tag war, an dem es nur ein Davor und ein Danach geben kann. Wir lebten ab dann über Jahre nur von Tag zu Tag. Wir mussten immer wieder unsere Koffer packen: vom Studentenwohnheim, über ganz viele Studenten-WGs, in Wohnungen von FreundInnen meiner Schwester oder von Leuten, die uns etwas Gutes tun wollten und konnten. Ganz viele schreckliche Substandardwohnungen, mit Ameisen, ohne Heizungen, Waldhütten, Schimmelwohnungen, überteuerte Wohnungen, Wohngemeinschaften mit Jagdhunden. Erst nach einem Jahr haben wir ein wenig staatliche Unterstützung bekommen: 109 Euro pro Kopf monatlich. Wir mussten dafür aber unterschreiben, dass wir nicht um Asyl als anerkannte Flüchtlinge ansuchen werden. Es war in den ersten drei Jahre einfach unmöglich zu wissen, ob wir hier bleiben dürfen, und wenn ja, wie lang, und unter welchen Voraussetzungen. Außerdem durften wir nicht arbeiten: Es war einfach unmöglich, eine Arbeitsbewilligung zu bekommen. Ich habe nach einem Jahr und durch viele Kontakte eine für mich ergattert. Viele andere Bekannte und Familienmitglieder haben bis zu zehn Jahren auf die erste offizielle Arbeitsbewilligung gewartet. Wir wurden also alle in eine Art Arbeitsillegalität gezwungen.
ASCAN: Nach dem Krieg musstet ihr nicht wieder zurück?
NINA: Nein, aus Deutschland mussten viele Flüchtlinge wieder zurück nach Bosnien-Herzegowina. Deutschland hat so eine Art Geldpaket angeboten, damit sie das Land verlassen. Aber auch hier in Österreich war es sehr schwierig für alle Leute, die nicht in das ‚System‘ reingekommen sind. Man wurde ja ständig geprüft, ob man auch genug Geld verdient. Hat man die richtigen Papiere? Hat man eine Anstellung? Hat man sich brav benommen? Es war die ganze Zeit ein Prüfprozess, dem wir ausgeliefert waren, zehn Jahre lang, in manchen Fällen noch immer.
ASCAN: Wolltest du gar nicht zurück nach Sarajevo?
NINA: Ich wollte unbedingt zurück! Also das erste Jahr war der gepackte Koffer immer da, immer ready!
ASCAN: Ich meine: Nach dem Krieg…
NINA: Bis dahin sind vier Jahre vergangen. Aber dann bin ich sofort zurück! Als erste von meiner Familie bin ich in den Bus eingestiegen, um FreundInnen und Familie zu besuchen. Das musste ich sofort machen! Ich bin dann die ganze Zeit hin- und hergefahren, habe ganz viele Kontakte wieder aktiviert und geschaut, dass ich mir dort irgendwie, irgendetwas aufbauen kann, also einen Ort für mich, einen zweiten Ort. Das hat aber nicht funktioniert…
ASCAN: Warum nicht?
NINA: Was bedeutet zurückgehen? Man beginnt ja, sich ein neues Leben woanders aufzubauen, es ist nicht so, dass man Jahre später an das anschließen kann, was einmal war. Ich finde, dass diese Frage nach dem „Zurückgehen“ auch eine Entwicklung vom Leben ausschließt. Wenn, dann lieber weitergehen als zurückgehen.
Praktisch alle aus meiner Generation sind im und nach dem Krieg weggegangen, eine Million Menschen sind geflohen, die ganze junge Generation. Viele Schulfreunde sind in Australien, Kanada und Schweden. Ich habe einfach fast niemanden mehr dort, bis auf die Erinnerungen an eine Zeit, die unwiederbringlich zerstört wurde. Als der Krieg losging, war ich 17. Meine Generation war die letzte, die noch eingezogen worden war. Die Männer aus meinem Jahrgang mussten kämpfen, wenn sie nicht geflohen sind. Sie haben alle Kriegserfahrung, und einige sind auch gestorben – auf beiden Seiten. Dagegen hatte ich hier in Wien Studienkollegen, Freundschaften, beginnendes Leben. Für mich was das Studium an der Filmakademie sehr schön und prägend. Wozu hätte ich das aufgeben sollen? In dieser bosnischen Nachkriegsstimmung wäre ich komplett verloren gewesen. Ich habe gespürt, dass das noch lange dauern wird, bis man sich dort eine Zukunft aufbauen kann.
ASCAN: Erst dann ist dir klar geworden, dass du und deine Familie in Österreich bleiben werden?
NINA: Ja, wir haben uns erst viele Jahre später eingestanden, was eigentlich passiert ist. In den familiären Nacherzählungen haben wir immer versucht, alles, was uns widerfahren ist, lustiger zu machen, als es in Wirklichkeit war, um es uns ein bisschen leichter zu machen: oft im lustigen Ton aber manchmal auch im dramatischen. In einer Familie, die sehr gern Drama mag, geht das ganz gut.
ASCAN: Ist so „Wishes“ (1999) entstanden, in dem du die illegale Einreise einer Flüchtlingsgruppe als leichtfüßiges Abenteuer erzählst?
NINA: Ja, und die meisten Darsteller sind Familienmitglieder: die kleine Schwester ist tatsächlich meine Schwester…
ASCAN: Und hast du ein neues Projekt?
NINA: Ja, ich drehe jetzt den Spielfilm „Ciao Chérie“ in einem sogenannten Call Shop, wo Handys repariert und entsperrt werden, wo man Geld nach Hause schicken kann, und skypen, interneten, aber auch in diesen Kabinen telefonieren… Die Kunden schicken ihre Stimmen nach Hause, und sie schicken das Geld nach Hause. Der Call Shop als Ort hat mich fasziniert, deshalb entsteht der Film auch vor einem dokumentarischen Hintergrund. Der Alltag des Ladens interessiert mich, die irrsinnig vielen Geldscheine, die über den Ladentisch gehen, aber vor allem fasziniert mich das Thema Telekommunikation, Wahrheit und Lüge. Es geht mir dabei um die Geschichten, die man sich gegenseitig erzählt. Ich habe mich in den letzten Jahren viel mit der Macht des gesprochenen Wortes beschäftigt, und darüber, was es heißt, eine eigene Sprache zu haben, eine Muttersprache, was es heißt, sie in der Fremde zu hören, an zwei Orten gleichzeitig zu sein: Der Körper ist hier, aber das Ohr ist in Senegal oder wo auch immer. Diese Differenz zwischen Bild und Ton finde ich filmisch sehr interessant. Das sind ja zwei verschiedene Ebenen: das Sein und das Telefonat: Sie erzählen, dass sie hier ein tolles Leben haben und sich gerade eine neue Wohnung oder ein Auto gekauft haben, dass sie eh wieder bald mehr Geld nach Hause schicken werden. Aber man sieht, dass das nicht stimmt. Und auch von dort werden Geschichten erzählt, es wird etwas aufrechterhalten, das keine Basis in der Realität mehr hat. Ich will ausprobieren, wie weit die Fantasie der ZuschauerInnen mitgeht, wenn sie so lang zuhören, während sie nur das Gesicht sehen, und die Hand am Hörer, die schmale Kabine, und die Stimme vom Gegenüber. Wie erzähle ich das? Geht das Publikum innerlich mit? Es ist ein Experiment.
ASCAN: …Also wieder einigermaßen dokumentarisch…
NINA: Ich möchte jetzt eigentlich den nächsten Schritt machen, und mich vom rein Dokumentarischen befreien, von dem Anspruch, mich nur an das halten zu müssen, was ist. Es befreit mich, nicht an echte Schicksale gebunden zu sein. Ich will jetzt die Grenzen der Charaktere ausloten, die Eigenarten und Schweinereien, oder was auch immer da die Triebe sind. Mit einem Dokumentarfilm kann und will ich das nicht.
ASCAN: Wo ist denn dieser Call Shop?
NINA: In Wien, am Brunnenmarkt.
ASCAN: Also direkt vor meiner Haustür! Ich wohne ja an der „Balkanmeile“. Du bleibst also dem Thema der „Fremde“ treu…
NINA: Nein, das ist nicht das Thema.
ASCAN: Was dann?
NINA: Die Welt würde ich sagen. Ich bleib der Welt treu!
(Transkription: Veronika Karim)
In diesem Blog erscheinen Interviews mit den am KINOSALON „East of Vienna, South of the Sun„ beteiligten Filmemacherinnen:
– KURDWIN AYUB: Die große Grenzenlosigkeit fühlen
– MARA MATTUSCHKA: Die totale Reorganisation der Welt
– MIRIAM BAJTALA: Ein volleres Leben
– ASCAN BREUER: Mache ich eigentlich „migrantische“ Filme? (Statement des Kinosalon-Kurators)
Der KINOSALON ist Veranstaltung im Rahmen von WIENWOCHE, in Kooperation mit This Human World, gefördert mit Mitteln der Stadt Wien.
Startseite des KINOSALON-Blogs – KINOSALON auf Facebook – Filmprogramm des KINOSALONS