Politik: Weiblich, türkisch, Entscheidungsträgerin

15.07.2009 | 16:14 | Clara Akinyosoye

Migrationshintergrund und politische Funktionen schließen einander nicht aus. Ministerjobs für Migranten sind aber noch selten.

Weiblich, türkisch – und politischer Entscheidungsträger. Seit September 2008 ist mit der Grünen Alev Korun erstmalig eine Abgeordnete türkischer Herkunft im Nationalrat vertreten. Wenn auch hier und insgesamt in Europa immer mehr Politiker mit Migrationshintergrund auf lokaler Ebene aktiv sind, sind sie doch in überregionalen Positionen unterrepräsentiert.

„Die Grünen waren Pioniere“, sagt Cem Özdemir, auch mit Hinweis auf Alev Korun und die derzeitige Grünen-Chefin Maria Vassilakou. Für die deutschen Grünen wurde Özdemir 1994 in den Bundestag gewählt. Mittlerweile ist er Bundesparteivorsitzender und war zwischenzeitlich im Europaparlament. Bei seiner Wahl zum Parteivorsitzenden 2008 sei seine Herkunft nicht zur Debatte gestanden, meint Özdemir. „Meine Wahl hat aber in Deutschland zur Normalität beigetragen. Migranten werden in der Politik eher akzeptiert. Von meiner Vision sind wir aber noch weit entfernt.“ Doch sei man zumindest auf dem richtigen Weg. „Heute sind Migranten auch in anderen Parteien vertreten, etwa in der CDU. Diese Entwicklung ist sehr begrüßenswert.“ Im deutschen Bundestag sind mittlerweile elf Abgeordnete migrantischer Herkunft, darunter ein Iraner und ein Kroate.

Der ehemalige Asylwerber Ricardo Lumengo aus Angola sitzt heute für die Schweizer Sozialdemokraten im Nationalrat. „Politische Partizipation muss eine Ausdehnung der Integration darstellen“, sagt er. Er selbst sieht seine Tätigkeit in der Politik als „Fortsetzung meines Integrationsweges in der Schweiz“. Lumengo, der zunächst im Stadtrat von Biel saß, ist jedoch nicht der erste Schwarze im Schweizer Nationalrat. Bereits von 1971–75 war Tilo Frey, deren Mutter aus Kamerun stammte, gleichzeitig auch eine der ersten weiblichen Nationalräte.

Die Schweiz als Pionierland für Migranten in der Politik? Nach den Erfahrungen Lumengos stimmt das nicht ganz. „Ich war als Gemeinde- und Kantonspolitiker mehr mit Rassismus von anderen Parteikollegen konfrontiert als jetzt in meinem Amt als Nationalrat. Es war eine schmerzhafte Erfahrung“, erzählt er. Zu einem Skandal rund um Lumengo kam es im Jahr 2007, als bei einer Bieler Stadtratssitzung Politikerkollegen Affenlaute nachahmten, um Lumengo zu verspotten.

Frankreich: Integration von oben

Die Schweizer Bevölkerung hat mit etwa 20 Prozent einen der höchsten Anteile von Zuwanderern in Europa. Abgesehen von Lumengo sitzen lediglich zwei andere Politiker mit Migrationshintergrund im Nationalrat der Eidgenossen. Die politische Repräsentanz Tilo Freys sieht Lumengo ganz nüchtern: „Frey kam aus dem zur Westschweiz gehörenden Kanton Neuenburg, einem der ersten Kantone, die die politischen Rechte der Ausländer eingeführt haben. Hier gibt es ein deutliches Zeichen des Einflusses der französischen Kultur“. Tatsächlich scheint in Frankreich die Akzeptanz von Migranten in der Politik höher zu sein. „In Frankreich fand die Integration von oben statt“, sagt Cem Özdemir, „dort waren Migranten zuerst in der Exekutive präsent.“

Das Kabinett von Nicolas Sarkozy ist vergleichsweise multikulturell. Bei der Regierungsbildung 2007 wurde Rachida Dati, deren Eltern aus Marokko und Algerien stammen, zur Justizministerin ernannt. Vor Kurzem wechselte sie ins Europaparlament. Die in Senegal geborene Rama Yade ist derzeit Staatssekretärin für Sport, 2007 war sie als Staatssekretärin im Außenministerium die erste Schwarze in einer französischen Regierung. Beide, Dati und Yade, sind Mitglieder des konservativen Parteienbündnisses UMP, dem auch Sarkozy angehört.

Und der Präsident selbst? Er ist ungarischer und griechisch-jüdischer Herkunft. (DUYGU ÖZKAN)

„Die Presse“, Print-Ausgabe, 15.07.2009


Kommentieren Sie den Artikel





Weitere Artikel von Clara Akinyosoye