Analphabetismus als Integrationshürde

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LEXIKON
  • Primärer Analphabetismus: Davon betroffen sind Menschen, die keine Lese- und Schreibkompetenz vorweisen können, diese Fähigkeiten auch nie erlernt haben.
  • Sekundärer Analphabetismus: Durch mangelnde Anwendung können Menschen ihre Sprache nicht mehr schriftlich umsetzen – sie verlernen das Schreiben.
  • Funktionaler Analphabetismus: Die Betroffenen sind zwar imstande, Buchstaben und Wörter zu erkennen und sie auch im begrenzten Rahmen anzuwenden, haben aber Schwierigkeiten, den Sinn längerer Texte zu erfassen.

13.05.2008 | 11:46 | Yordanka Hristozova-Weiss

Rund 300.000 Menschen in Österreich können weder lesen noch schreiben – Migranten leiden darunter besonders stark.

F-l-o-r-e-n-c-e. Flo-ren-ce. Floren-ce. Ich habe tausend Mal meinen Namen geschrieben, jetzt brauche ich nicht mehr den Finger in Indigo drücken, um zu signieren!“ Lesen und Schreiben konnte die gebürtige Nigerianerin bis vor kurzem nicht. Jetzt, in Wien, drückt sie regelmäßig die Schulbank. Die 27-Jährige ist eine der ungefähr 300.000 Analphabeten in Österreich.

„Gesichertes Datenmaterial über diese Zahl liegt uns nicht vor“, sagt Bettina Rossbacher von der Österreichischen Unesco-Kommission. Laut einer von ihr zitierten Statistik können weltweit rund 780 Millionen Erwachsene nicht lesen und schreiben. Mehr als 70 Millionen Kinder wachsen ohne Schulbildung auf.

Hilfe von Verwandten

Dabei sind Lesen und Schreiben wichtige Voraussetzungen für eine erfolgreiche Integration ins berufliche Leben – bei Migranten umso mehr. Dennoch sind viele Berufstätige Analphabeten. „Manche sind Bediener, Lagerarbeiter oder Küchenhelfer. Andere haben sich selbstständig gemacht – etwa als Eisverkäufer. Mit Hilfe von Verwandten und Freunden bewältigen sie schriftliche Business-Aufgaben“, sagt Monika Ritter, pädagogische Leiterin des „Alfa“-Zentrums der Volkshochschule Ottakring, das Migranten bei der Alphabetisierung helfen soll.

Analphabetismus gilt in Österreich als Tabuthema. Viele schämen sich und suchen deswegen nicht nach Hilfe. „Ich habe heute meine Brille vergessen“ oder „Mir ist schwindlig, ich kann so nicht lesen“ – ein kleiner Auszug des Repertoires an Ausreden.

Wären die Stundenlisten in der Firma nicht Pflicht geworden, hätte sich auch Peter (Name geändert, Anm.) nicht zum Alphabethisierungskurs gemeldet. Der gebürtige Wiener hat zwar die Schule besucht, kann aber nicht lesen und schreiben. Doch Zeitlisten und schriftliche Arbeitsaufträge haben ihn zum Handeln motiviert. Seit zwei Semestern besucht er die VHS Floridsdorf.

Jetzt kann er selbstständig die Stundenlisten in den Excel-Tabellen ausfüllen. Ihm fiel es leicht, da Deutsch seine Muttersprache ist. Menschen, die nicht in Österreich geboren sind, haben es meist schwerer.

So auch Mira, geboren in Ex-Jugoslawien und seit 19 Jahren in Wien. Sie konnte als Kind keine Schule besuchen. Nach dem Tod ihrer Mutter musste sie im Haushalt und bei der Erziehung ihrer jüngeren Geschwister einspringen. In drei mal drei Stunden pro Woche versucht sie nun, ihre Defizite bei einem Alphabetisierungskurs aufzuholen. Die Frau erfüllt alle Anforderungen, österreichische Staatsbürgerin zu werden. Einziges Problem: Sie kann für die dazu notwendige Prüfung nicht gut genug lesen. Deshalb drückt sie die Schulbank.

Die gleiche Schule besucht auch Florence. Der Zufall hatte sie 2001 nach Österreich gebracht. Es vergingen drei Jahre bis zum ersten Deutschkurs. „Ich habe kein Wort verstanden“, erzählt sie. Sie kehrte der Schule den Rücken. „Später hat mich mein Mann ermutigt wieder hinzugehen. Dann habe ich den Vortragenden gestanden: Ich bin Analphabetin und brauche Hilfe.“

„Nicht nur essen und schlafen“

Heute arbeitet Florence am Wiener Flughafen, wo sie Mahlzeiten für Fluggäste zubereitet. Und neun Stunden pro Woche widmet sie sich der Verbesserung des Lesens und Schreibens. „Früher war ich leer. Nur essen und schlafen. Das geht auf Dauer nicht.“

Mittlerweile ist sie glücklich. Doch sie strebt nach noch mehr. Sobald sie gut genug schreiben kann, möchte sie ein Buch über ihren Lebensweg verfassen. „Es ist eine traurige Geschichte, aber ich möchte sie erzählen, um anderen Menschen Mut zu machen.“

(YORDANKA HRISTOZOVA-WEISS , „Die Presse“, Print-Ausgabe, 14.05.2008)


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