Integration im Blindeninternat

03.03.2011 | 12:25 | Milagros Martinez-Flener

Zwei Drittel der Schüler im Wiener Blindenerziehungsinstitut haben Migrationshintergrund. Gelehrt wird nicht nur das Leben mit der Behinderung, sondern auch der respektvolle Umgang mit anderen Kulturen.

Wien. Mustafa ist Fan von Red Bull Salzburg. Und er trägt seine Klubjacke mit Stolz. Bis Ende des vergangenen Jahres lebte der Zehnjährige mit seiner Mutter in Armenien – auf dem Land, wo er keine Möglichkeit hatte, eine Schule zu besuchen. Im Zuge der Familienzusammenführung kam er nun nach Salzburg, wo er eingeschult werden sollte.

Da er kein Wort Deutsch sprach und in sich gekehrt war, wurde er von der Volksschullehrerin als nicht beschulbar qualifiziert und hätte daher – bei normaler Intelligenz – in die Sonderschule wechseln sollen. Doch so weit kam es nicht. Denn bei Mustafa wurde eine Augenerkrankung diagnostiziert, die im Laufe der Jahre zu völliger Blindheit führen wird. Und so übersiedelte der Zehnjährige in das Blindeninternat in Wien. Hier bekam er erstmals die Chance, zu lernen und sich auf seine neue Situation vorzubereiten.

Multikulti in der Schule

So wie Mustafa lernen rund 140Schüler des Internats – zwei Drittel von ihnen haben Migrationshintergrund – mit den verschiedenen Graden ihrer Sehbehinderung im Alltag zurechtzukommen. „Hier ist wirklich ,Multikulti‘, und das spielt überhaupt keine Rolle“, sagt Anneliese Höllersberger, Erziehungsleiterin des Bundes-Blindenerziehungsinstituts in Wien.

Jugendliche mit Migrationshintergrund gibt es hier, in einem Gebäude direkt neben dem Prater, schon seit den frühen Siebzigerjahren. Die Zahl der Schüler aus Ex-Jugoslawien stieg in den Neunzigern stark an. In den letzten zehn Jahren ist ein deutlicher Zuwachs von Kindern und Jugendlichen aus der Türkei zu beobachten.

Unterrichtet wird nicht nur, wie die Kinder die Alltagsprobleme mit ihrer Sehbehinderung lösen können, die Kinder lernen auch, respektvoll mit der Kultur der anderen umzugehen und auf Vorurteile kritisch zu reagieren. „Bei uns funktioniert die Integration beispielhaft“, meint Höllersberger.

Nicht neben Ausländern sitzen

Ein Anliegen vieler Eltern ist es, dass ihre Kinder Deutsch lernen. Leiterin Höllersberger kann nur schmunzeln, wenn sie etwa von jenem türkischen Vater erzählt, der nicht wollte, dass sein Sohn neben einem Ausländer sitzt – weil er sonst nicht gut Deutsch lernen würde. Die Fortschritte ihrer Kinder motivieren Eltern in einigen Fällen auch, selbst Deutschkurse zu besuchen.

Vorrangiges Ziel bei der Arbeit mit jugendlichen Sehbehinderten ist die Erziehung zur Selbstständigkeit. Das ist vor allem bei jenen Kindern besonders wichtig, deren Eltern eher die Abhängigkeit von der Familie fördern. Ein Verhaltensmuster, das es unter anderem bei türkischstämmigen Familien gibt, in denen junge Männer besonders wenig gefordert werden.

„Sie erfüllen die klassische Männerrolle, werden im Haushalt noch mehr unterstützt und sind daher unselbstständiger, was in der Arbeitswelt sehr problematisch sein kann“, erklärt Herbert Hametner, Projektleiter im Blindenverband.

Diese Abhängigkeit bedeutet für einige Familien die Sicherung ihres Einkommens – denn Sehbehinderte beziehen neben der Familienbeihilfe auch Pflegegelder ab der Stufe drei. „Manche Eltern interessieren sich vor allem für das Geld, das die Jugendlichen erhalten, und nicht für ihre Entwicklung“, meint Andrea Neuberger, Psychologin im Blindenverband. „Bei einigen Migrantenfamilien kann es sein, dass dieses Geld das einzige Einkommen der Familie ist, weil der Vater arbeitslos wurde oder weil die Firma, in der er gearbeitet hat, in Konkurs gegangen ist“, ergänzt Höllersberger.

Einige Eltern aus Migrantenfamilien haben indes Probleme damit, dass ihre sehbehinderten Jugendlichen mehr aus ihrem Leben machen wollen. „Diese Einstellung hat bei manchen Familien tiefe Krisen ausgelöst“, erklärt Psychologin Neuberger. Denn das bedeutet den Bruch mit den Traditionen ihrer Herkunftsländer und ihrer Familien. So wehrte sich etwa eine blinde Türkin gegen ihre Zwangsverheiratung, als sie 18 Jahre alt wurde, weil sie lieber studieren wollte. Daraufhin prügelte sie der Vater krankenhausreif. Am Ende setzte sie sich dennoch durch.

Die Aussichten auf eine Berufsausbildung sind für junge Sehbehinderte generell sehr eingeschränkt. Viele Jugendliche lassen sich daher bei „Clearing und Arbeitsassistenz“ im Blindenverband beraten und entscheiden sich dann für eine Lehre oder sogar für ein Studium.

Der Einstieg in das Berufsleben ist für junge Sehbehinderte nie einfach, aber jene mit Migrationshintergrund setzen sich oft besser durch. „Sie sind sich nicht zu schade für einen Job – im Unterschied zu einem Österreicher, der schon im Voraus weiß, dass er die eine oder die andere Arbeit nicht machen will, oder der sich eine Bezahlung vorstellt, die seinen Qualifikationen nicht entspricht“, erläutert Herbert Hametner.

Neue Wege im Berufsleben

Dieses Durchsetzungsvermögen führt dazu, dass immer mehr sehbehinderte Migranten nach neuen Wegen in ihrem Berufsleben streben. Die einen schaffen es, einen Job zu bekommen, die anderen machen sogar den Sprung an die Universität. Und dann gibt es auch noch jene, die als Sportler ihr Geld verdienen – so wie etwa Bil Marinkovic (siehe Artikel unten), der 2009 mit neuem Weltrekord Speerwurf-Europameister für Blinde und Sehbehinderte wurde. (MILAGROS MARTÍNEZ-FLENER)


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