„Kein Geld, keine Schule“ – Analphabeten in Österreich

KURZ:
  • Nach Schätzungen der UNESCO sind weltweit rund 780 Millionen Erwachsene Analphabeten. In Österreich geht man von etwa 600.000 Betroffenen aus.

07.09.2011 | 17:13 | Jana Rosenfeld

Am 8. September ist internationaler Alphabetisierungstag. Dieser Tag soll auf die Problematik aufmerksam machen, dass Schätzungen der UNESCO zufolge rund 780 Millionen erwachsene Menschen weltweit nicht oder nicht ausreichend lesen und schreiben können. In Österreich geht man von etwa 600.000 aus.

„Als ich nicht in die Schule ging, konnte ich keine Straßenschilder lesen. Jetzt finde ich mich in der Stadt schon viel besser zurecht“, sagt Glory O., die vor 10 Jahren aus Nigeria nach Wien kam. Ihr geht es wie – Berechnungen der UNESCO zufolge – 780 Millionen anderen erwachsenen Menschen weltweit. In Österreich sollen es laut der österreichischen UNESCO-Kommisssion rund 600.000 Menschen sein. Es könnten allerdings noch weit mehr oder auch viel weniger sein, denn bis heute existiert keine Studie zu der tatsächlichen Anzahl der Menschen in Österreich, die etwa ihre Post nicht alleine lesen und beantworten können. Die Schätzungen schwanken zwischen 300.000 und 1,2 Millionen.

„Kein Geld, keine Schule“

Die Gründe für Analphabetismus sind vielfältig und unterschiedlich, wobei kulturelle, soziale, schulische und individuelle Faktoren eine Rolle spielen. Die meisten betroffenen Österreicher sind keine primären Analphabeten, also Personen, die die Schrift nie erlernt haben, sondern sekundäre. Sie brechen den Lernprozess irgendwann ab, und versuchen dann jeglicher Situation, bei der sie lesen und schreiben müssen, aus dem Weg zu gehen. Auch viele Migranten in Österreich, die hier als Analphabeten gelten, erlernten die Schrift in ihren Herkunftsländern. In Nigeria lernte Glory O. Lesen und Schreiben auf der Schule, die sie jedoch nur unregelmäßig besuchte. „Wenn kein Geld da ist, gehst du nicht auf die Schule.“ Sie, sowie die meisten Österreicher, kann zwar lesen und schreiben, aber nicht gut genug, um alle Anforderungen ihres Alltags selbstständig und ohne Probleme zu bewältigen.

Analphabetismus ist relativ und hängt auch davon ab, wie wichtig die Schrift in der jeweiligen Gesellschaft ist. Viele Migranten, die die Schrift in ihren Herkunftsländern gut genug beherrscht haben, um sich in ihrem Alltag zurecht zu finden, können dies in Österreich aufgrund des höheren Stellenwertes der Schrift nicht. So kann man in Österreich heute kaum ein kleines Geschäft führen oder als Verkäufer arbeiten, ohne einen Computer verwenden oder diversere Formulare ausfüllen zu können, während das in vielen anderen Ländern durchaus möglich ist. Die Entscheidung einen Alphabetisierungskurs zu besuchen ist also häufig, sowohl für Österreicher, als auch für Migranten, berufsbedingt.

Alphabetisierung – mehr als nur Deutschlernen

Alphabetisierung bedeutet die Möglichkeit sein Leben selbst in die Hand und aktiv an der Gesellschaft teilnehmen zu können, sowie Zugang zu Information, Bildung, Wissenschaft und Technologie zu bekommen. Doch bis vor zwanzig Jahren war Analphabetismus noch kein Thema. Bis 1990, dem internationalen Jahr der Alphabetisierung, gab es in Wien nur einen einzigen Alphabetisierungskurs. Seit dem hat sich viel getan. Heute kann man auf diversen Volkshochschulen in sogenannten Basisbildungskursen das Lesen und Schreiben, sowie Rechnen erlernen.

Auch das “Projekt A-Z” bietet Kurse an und bemüht sich um eine Sensibilisierung der Gesellschaft. Das Alfazentrum für Migranten im lernraum.wien der Wiener Volkshochschulen widmet sich der besonderen Schwierigkeit der Alphabetisierung in einer Sprache, die nicht die Muttersprache der Teilnehmer ist. Hier wird die Schrift gemeinsam mit Deutsch als Zweitsprache unterrichtet und Alphabetisierung nicht als Vorkurs zu einem Deutschkurs begriffen, da es unmöglich ist so schnell zu lernen, um mit jenen, die seit dem Kindesalter lesen und schreiben konnten, mitzuhalten.

Deutsch nicht als Muttersprache zu haben, kann den Lernprozess des Schreibens natürlich erheblich erschweren. Allerdings ist es aber auch eine Chance, da das Erlernen der Schrift für Nicht-Muttersprachler häufig weniger mit Frustration und dem Gefühl des persönlichem Versagens verbunden ist als für Leute, die regelmäßig zur Schule gingen und Situationen, bei denen Lesen und Schreiben nötig ist, jahrelang gemieden haben. Da es eine Herausforderung ist sich seinen Ängsten zu stellen und sich mit etwas auseinanderzusetzen, das lange Zeit verdrängt wurde, ist eine begleitende Lern- und sozialpädagogische Beratung in allen Kursen unabkömmlich.

Auch Glory O wartete fast 10 Jahre, bis sie sich entschied einen Deutsch- und Alphabetisierungskurs zu besuchen Jetzt macht sie seit 6 Monaten einen Kurs an der Volkshochschule. „Die Schule hat mein Leben verändert. Ich lerne Deutsch, Lesen und Schreiben. Mein Ziel ist es, in irgendein Büro in Wien zu gehen und mich allein zurechtzufinden.

Auch meine zwei Söhne lernen Deutsch. Vielleicht können wir uns eines Tages gegenseitig unterstützen.“ Das Konzept der Kurse ist erfolgreich. Doch trotzdem fehlt es weiterhin an einem Bewusstsein in Politik und Gesellschaft. Schließlich ist man immer noch darüber im Unklaren wie viele Menschen in Österreich tatsächlich von diesem Problem betroffen sind. Als erster Schritt soll nun die OECD Studie PIACC (Programme for the International Assessment of Adult Competencies), an der auch Österreich teilnimmt, bis 2013 Zahlen liefern.


ein Kommentar

  • Anna flament

    Ja, die Probleme mit der Orientierung kenne ich auch. Eine Nachbarin war mit 6 Kindern aus Somalia hergezogen, es wurden 7 Kinder. Diese Frau bewundere ich zutiefst! Sie ist 2x wöchentlich mit den Kleineren aus NÖ nach Wien Ottakring in die VHS gefahren um schreiben und lesen zu lernen. Sie hatte vorher nie diese feinmotorische Präzision geübt, die für das Schreiben nötig ist. Dort wo sie her ist, hat sich niemand um Schulbildung eines Mädchens gekümmert. Sie hat sich sehr geplagt, die Striche und Kurven zu ziehen. Sie hat geübt, wärend die Kinder herumpurzelten und nach Essen verlangten. Und welche Angst sie hatte, als sie wegging und nicht wusste, was die Älteren alleine zu Hause anstellten. Wir nennen das: Verletzung der Aufsichtspflicht. Aber wie soll man denn gleichzeitig an zwei Orten sein? ES war sehr harte Arbeit! Aber ich erinnere mich, als sie eines Tages, als wir in der Stadt unterwegs waren, sagte: " Schau, ich kann das schon lesen" Wie glücklich war sie da! Und ich auch. Jetzt konnte sie sich in der Stadt orientieren, konnte die Buchstaben und Ziffern auf der Strassenbahn und auf den Bussen lesen. Sie hat ein Stück Freiheit und Unabhängigkeit gewonnen - und eine ganze Menge Angst verloren. Geschrieben um 13. März 2012 um 15:35 Uhr Antworten

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