Novemberpogrom: Jüdische Jugend kämpft gegen das Vergessen

10.11.2011 | 12:10 | Jana Rosenfeld

Gestern versammelten sich Mitglieder der jüdischen Gemeinde, darunter auch Zeitzeugen, und andere Teilnehmende vor dem psychosozialen Beratungs- und Behandlungszentrum (ESRA) um den Verbrechen des Novemberpogroms zu gedenken.

An den Wänden des heutigen psychosozialen Beratungs- und Behandlungszentrums ESRA, wo unter anderem durch NS-Verbrechen Traumatisierte behandelt werden, hängen heute Exponate einer von jüdischen Jugendlichen vorbereiteten Ausstellung über im November 1938 zerstörte Synagogen. „Heute gibt es hier wieder jüdisches Leben“, beginnt Peter Schwarz, Geschäftsführer der ESRA, seine Eröffnungsrede. Eine Gedenktafel in deutscher und hebräischer Schrift erinnert daran, was hier früher war: der 1858 erbaute und „am 10. November 1938 in der sogenannten Reichskristallnacht von den nationalsozialistischen Barbaren bis auf die Grundmauern“ zerstörte Leopoldstädter Tempel. Am 9. November versammeln sich hier Mitglieder der jüdischen Gemeinde und andere Teilnehmende um den Verbrechen des Novemberpogroms zu gedenken.

Zum wiederholten Mal organisiert die jüdische Jugendkommission, der Dachverband aller jüdischen Jugendbewegungen, die Gedenkveranstaltung. Es ist kein Zufall, dass sie am ehemaligen Standort einer der rund 1400 im „Deutschen Reich“ zerstörten Gebetshäuser stattfindet. Für weitaus mehr als ein zertrümmertes Haus, nämlich den zivilisatorischen Bruch, der damals stattfand, ist dieser Platz ein Symbol. „Die damalige Gesellschaft hat nicht ‚nur’ Menschen und Gebäude vernichtet. Es wurden Werte, die die Säulen der Gesellschaft darstellten, vernichtet“  schildert Schwarz.

 Mehr als nur Scherben

„‚Kristallnacht! Das funkelt, blitzt und glitzert wie bei einem Fest!“, schreibt Avraham Barkai zynisch in seiner berühmten Abhandlung „Schicksalsjahr 1938“. Die Bezeichnung „Reichskristallnacht“ für das, was auf den Vorwand des Attentats eines polnischen Juden an einem deutschen Diplomaten in Paris am 7. November 1938 hin folgte, ist umstritten. Die Bezeichnung verschleiert die systematische Planung und Lenkung von Seiten der NSDAP und verharmlost das Ausmaß der Gewalt. Während suggeriert wird, es wären ‚nur’ eine Nacht lang ‚bloß’ einige Fenster und Kristallleuchter jüdischer Geschäfte und Synagogen zerstört worden, schaut die grausame Bilanz anders aus: Einige Tage und Nächte lang wurden 30.000 Juden und Jüdinnen verhaftet und in Konzentrationslager gebracht, über 1400 Synagogen zerstört und 400 Menschen ermordet oder in den Selbstmord getrieben.

Zwar waren die Ereignisse des Novembers 1938  nicht der Anfang der Diskriminierungen, aber trotzdem ein Wendepunkt. Die aus Brünn stammende, von ihrer Cousine aus Wien jedoch gewarnte, Zeitzeugin Edith Landesmann schaffte es noch rechtzeitig in das damalige Palästina zu flüchten. „Wir haben nicht geglaubt, dass Menschen anderen Menschen so etwas antun könnten – bis wir die tätowierten Arme der Auschwitz-Überlebenden sahen“, erzählt sie.

Nie wieder!

Die Ereignisse des Novemberpogroms waren die ersten Anzeichen des gewaltsamen Untergangs einer Epoche, in der Menschen, aber auch Kultur, Wissenschaft, Menschlichkeit und Liebe zerstört wurden, so Oskar Deutsch, Vizepräsident der israelitischen Kultusgemeinde. „Wir dürfen nie wieder zulassen, dass das Böse die Macht ergreift.“ Auch Peter Schwarz warnt, dass alle Formen von Fremdenfeindlichkeit, die im politischen Diskurs in diesem Land wieder ihren Stammplatz haben, bereits im Ansatz bekämpft werden müssten, angefangen beim eigenen Denken und Handeln.

Daher fordert der Geschäftsführer der ESRA eine breite Auseinandersetzung, auch unabhängig von Gedenktagen. Es muss „mehr sein als Rückblick und mehr als Betroffenheit“, sagt Schwarz.

Chanan Babacsavy, stellvertretender Jugendvorsitzender, sieht das Erinnern als einen Gedenkdienst. „Es ist wichtig, dass die Jugend mit der Durchführung der Veranstaltung betraut wurde, denn es ist ihre Aufgabe gegen das Vergessen zu kämpfen.“

Nach zwei musikalischen Beiträgen und von Jugendlichen vorgetragenen Gedichten und Zeitzeugenberichten, stimmt Oberrabbiner Chaim Eisenberg nach einem Gebet die israelische Nationalhymne „Hatikva“, auf Deutsch „Hoffnung“, an. „Denn es ist richtig diesen traurigen Tag mit ein bisschen Hoffnung zu beenden.“


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