Tontine: Sparen wie in Westafrika

27.04.2011 | 0:10 | Ania Haar

In Westafrika haben sich lokale Spargruppen organisiert, um ihren Mitgliedern zu einem bestimmten Zeitpunkt größere Geldmengen zur Verfügung stellen zu können. Solche Gruppen sind auch in Österreich aktiv.

Wien. „Für 50 Euro bekommen Sie 500“, sagt Hermann Nsambang. „Das ist doch ganz einfach.“ Was in den Worten des Obmanns des Kulturvereins Acora wie finanztechnisch fauler Zauber klingt, ist in Wirklichkeit das Konzept von Tontine – einer Spar- und Kreditgruppe, die in Westafrika weit verbreitet ist. Das System dahinter ist simpel: Mehrere Leute treffen einander und legen einen bestimmten Geldbetrag in einen Topf. Derjenige, der es am nötigsten hat, bekommt am gleichen Tag die zusammengelegte Summe. Bar ausbezahlt, auf die Hand, einfach so. Und das ohne Zinsen oder versteckte Kosten.

Tontine geht auf den italienischen Bankier Lorenzo de Tonti zurück, der im 17. Jahrhundert lebte. Ursprünglich als eine Form der Lebensversicherung gedacht, bezeichnet es in Westafrika nun lokale Spar- und Kreditgruppen. Und genau die werden von der afrikanischen Community auch in Österreich weiter praktiziert.

Nicht nur Sparen

Seit mehr als zwei Jahren trifft sich in Wien eine Gruppe, vorwiegend Kameruner, zum Sparen. Weil es seitens des Finanzsektors keine entsprechenden Angebote gibt, oder aber, weil man das System von zu Hause kennt. Die Idee, die hinter Tontine steckt, ist allerdings nicht nur das Sparen. „Es geht auch um die gegenseitige Unterstützung im Alltag, damit man besser leben kann“, sagt Nsambang, „Auch neue Freundschaften werden geschlossen.“

Und, auch das sei ein Effekt des Systems: Es helfe dem Mitsparer, verantwortlicher und selbstbewusster zu sein. Klarerweise werde damit auch die Sparsamkeit unterstützt. „Statt drei Tomaten kauft sich Monique eben nur eine Tomate“, erklärt der Obmann des Vereins. Damit kann man ein paar Euro zur Seite legen. So kommen im Monat, je nachdem, 20 bis 30Euro zusammen, die dann wieder in die Tontine gesteckt werden können.

Monique, die neben Nsambang sitzt und ihren Familiennamen in der Zeitung nicht lesen möchte, fallen buchstäblich die Augen zu. Sie hat einen sehr anstrengenden Arbeitstag hinter sich – sie ist extra aus Linz hergefahren. „Es ist manchmal schwierig, so lange zu warten, bis alle Leute da sind.“

„Wir treffen uns nicht nur in Wien“, sagt Pierre Foyang, der ebenfalls seinen Anteil in der Tontine hat. Fast in jedem Bundesland gibt es Mitglieder, und da bei einer Tontine Anwesenheitspflicht besteht, wird regelmäßig durch das ganze Land gereist. „Derzeit haben wir 45 Teilnehmer. Und sie alle waren schon gemeinsam in Österreich unterwegs“, so Foyang. Viele Schwarze in einem Zugabteil – gab es da keine strengen Kontrollen? „Nein, bis jetzt gab es keine Schwierigkeiten, es liegt vielleicht daran, dass wir untereinander Französisch sprechen“, glaubt Foyang. „Da kontrolliert man uns halt weniger.“

Es ist bald 22 Uhr. Moniques Augen werden kleiner; sie nickt im Minutentakt immer wieder ein. Immer mehr Menschen kommen in den Raum, reden über ihren Alltag, die Probleme, aber auch über ihre Erfolge. „Menschen bringen ihre Diplome, wenn sie gerade mit dem Studium fertig sind, und zeigen sie den anderen“, sagt Nsambang. So wie der Ingenieur Levi Koloko. „Bald werde ich mit dem Doktorat fertig sein und komme bestimmt mit dem Diplom hierher.“ Heute ist Koloko für die Finanzen zuständig, also für das Einzahlen und Auszahlen der Tontine-Anteile. Jeder Transfer wird penibel in die Liste eingetragen.

Zwar ist der Verlauf einer Tontine „streng“ geregelt, dennoch hält man sich eine gewisse Flexibilität offen. Der Solidarität wegen. „Wenn jemand aus der Tontine heute sagt, dass er ein Problem hat und dringend das Geld braucht, kann auch anders ausbezahlt werden“, sagt Koloko. Deshalb weiß Monique, die heute mit der Auszahlung des Angesparten an der Reihe ist, noch nicht, ob sie 300 oder 4500 Euro bekommt. „Wenn jemand kommt und mit mir verhandelt, dass er das Geld dringender als ich braucht“, sagt Monique, „werde ich einen Teil abgeben.“ Das notiert sich dann der Finanzsekretär, damit bei der nächsten Auszahlung der fehlende Betrag von Monique ausgeglichen wird.

 

Vertrauen als Basis

„Tontine basiert auf Vertrauen“, sagt Nsambang, „das kann auch zum Nachteil werden.“ Denn wenn jemand nicht einzahlt, gerät das System aus dem Gleichgewicht. Damit es nicht so weit kommt, unterschreiben alle Teilnehmer eine Vereinsmitgliedschaft – damit sind die einbezahlten Beträge quasi Vereinsgelder und vor Gericht einklagbar. Allerdings: „Bis jetzt ist niemand rausgefallen“, sagt Nsambang. „Passieren kann es aber natürlich schon.“

Manche leihen sich sogar extra neues Geld von anderen Quellen, um die Schulden in der Tontine zu begleichen – nur, um nicht aus der Spargruppe zu fallen. Teilnehmen kann übrigens jeder: „Von Studenten bis Angestellten ist jede Schicht bei uns vertreten“, sagt Obmann Nsambang. „Wir haben auch schon Österreicher in der Gruppe gehabt.“

(Ania Haar, „Die Presse“, Print-Ausgabe, 27.04.2011)

 


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