Wien: Migranten prägen das Stadtbild

11.10.2011 | 22:50 | Milagros Martinez-Flener

Eine Stadt ist wie ein lebender Organismus. Sie unterzieht sich Veränderungsprozessen, die zu ihrer Entwicklung beitragen. Auch Wien ist da keine Ausnahme, Migrantengruppen prägen die Stadt aktiv mit.

Wien. Wien wächst. Pro Jahr steigt die Bevölkerung um rund 15.000 Personen. Zwar leben in Wien heute weniger Menschen als zu Beginn des 20. Jahrhunderts, doch etwa im Vergleich zu 1991 ist die Stadt um rund 200.000 Menschen gewachsen. „Der Großteil dieses Wachstums ergibt sich durch die Zuwanderung“, sagt Tobias Panwinkler, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Österreichischen Institut für Raumplanung.

Bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass in den letzten 20 Jahren die Zahl der ausländischen Staatsangehörigen in Wien von 12,77 auf 21,5 Prozent gestiegen ist. Dabei hat „in den letzten Jahren ein Wechsel bei der Herkunft der Einwanderungsgruppen stattgefunden“, sagt Rainer Hauswirth, Referent der Abteilung Stadtforschung und Raumanalyse der MA 18 (Stadtentwicklung und Stadtplanung).

Viele deutsche Zuwanderer

Während in den 90er-Jahren die meisten Einwanderer aus dem ehemaligen Jugoslawien und aus der Türkei gekommen sind, wandern heute verstärkt Menschen aus der gesamten EU nach Österreich ein. „Die Deutschen sind die stärkste Zuwanderungsgruppe in ganz Österreich und die drittstärkste in Wien hinter den Serben und den Türken“, sagt Theodora Manolakos, Referentin der MA 17 (Integration und Diversität der Stadt Wien). Zu beobachten ist, dass die Zahl der Migranten aus Serbien sogar rückläufig ist, die aus der Türkei stagniert – und dafür jene aus Deutschland stark zunimmt.

Historische Ereignisse wie der Fall des Eisernen Vorhangs und der Beitritt Österreichs und der seiner östlichen Nachbarn zur EU haben sowohl die Zunahme als auch die Hintergründe der Zuwanderung verändert. Früher waren es hauptsächlich Gastarbeiter, Asylwerber und Flüchtlinge aus Osteuropa, während heute unter den Zuwanderern viele (vor allem deutsche) Studenten, Geschäftsleute und Wissenschaftler – auch aus den EU-Gründungsstaaten – zu finden sind. „Durch diese Ereignisse ist die Mobilität der Menschen größer geworden und das hat dazu geführt, dass die Gesellschaft multikultureller wurde“, sagt Panwinkler.

„Stadt ist Einwanderung“

„Stadt ist Einwanderung“, zitiert Theodora Manolakos den Berliner Migrationsbericht und ergänzt, „erst recht in einer Großstadt.“ Obwohl es eine Tatsache ist, dass Gruppen von Migranten räumlich in bestimmten Stadtteilen leben, gebe es in Wien keinen einzigen Bezirk, in dem eine einzige Migrantengruppe die Mehrheit der Bevölkerung ausmacht. Ganz im Unterschied zu anderen europäischen Städten ist hier eine starke Interaktion zwischen der „alten“ und der „neuen“ Wiener Bevölkerung zu beobachten.

Wie das funktioniert, zeigen etwa die heute so beliebten italienischen Eissalons. Ende des 19.Jahrhunderts waren sie noch auf starke Widerstände der damaligen Kaffeesieder und Konditoren gestoßen. Oder auch der Naschmarkt, der dank (oder trotz) seines multikulturellen Charakters eine Touristenattraktion geworden ist.

Türken als neue Greißler

In den 80er- und 90er-Jahren eröffneten zahlreiche iranische Teppichhändler ihre Geschäfte in Wien. Und heute halten viele türkische Lebensmittelhändler und Bäcker ihre Läden auch am Sonntag geöffnet – und sprechen damit auch Kunden außerhalb ihrer jeweiligen Community an. In vielen Fällen haben sie „mittlerweile die Aufgaben der ehemaligen Greißlereien übernommen, weil sich kein Österreicher für das Geschäft meldet“, erklärt Rainer Hauswirth. Wien lebt und entwickelt sich weiter, meinen Experten. Neue Migrantengruppen prägen das aktuelle Stadtbild mit und sind aus ihm auch nicht mehr wegzudenken.

Genau diese Diversität ist es, die viele Experten als große Bereicherung sehen. Und die Parallelen ziehen zu einer Zeit, in der es in Wien ähnlich zuging – nämlich zum multikulturellen Wien zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

(„Die Presse“, Print-Ausgabe, 12.10.2011)


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