9. November – ein Datum, das nicht vergessen werden darf

09.11.2011 | 13:40 | Susanne Scholl

GASTKOMMENTAR. Die Reichspogromnacht – angeordnet von oben, ausgeführt durch eine aufgehetzte, mordlustige Menge. Sie war der Beginn der systematischen physischen Vernichtung des europäischen Judentums. Nie wieder darf es soweit kommen. Nie dürfen wir vergessen.

Meine Mutter war gerade einmal 22 Jahre alt, als das Unvorstellbare begann. Sie war unterwegs zur Großmutter, die in der Nähe wohnte. Als sie an der Wohnungstüre läutete geschah gar nichts. Nach einiger Zeit lugte die Großmutter durch einen Spalt in der Türe und befahl meiner Mutter, sofort nach Hause zu gehen. Auf den Strassen, so sagt meine Mutter, waren unheimlich wirkende Gruppen von Männern unterwegs. Sie rannten und schrien – und meine Mutter lief, so schnell sie konnte nach Hause. Die ganze Nacht saß die Familie im Dunkeln in dem einzigen Zimmer, das sie zu fünft bewohnten und lauschte auf den Lärm von der Strasse. Voller Angst und voller Unverständnis für das, was da geschah.

9. November 1938. Die Reichspogromnacht – angeordnet von oben, ausgeführt durch eine aufgehetzte, mordlustige Menge. Eine Ungeheuerlichkeit von Ausmaßen, wie sie damals nicht einmal die direkt Betroffenen erahnten. Es war der Beginn der systematischen physischen Vernichtung des europäischen Judentums.  Der Hass war allgegenwärtig, aber die systematische Ausrottung einer ganzen Bevölkerungsgruppe war von den politischen Führern beschlossen worden. Die willigen Vollzieher gab und gibt es immer.

An diese Ungeheuerlichkeit muss erinnert werden. Immer. Zumal wir offenbar unfähig sind aus der Geschichte zu lernen. Ich sehe mich um – und sehe: die Massenmorde im Jugoslawien-Krieg. Den Völkermord in Ruanda. Die Morde und Greueltaten in den beiden Tschetschenien-Kriegen. Und ich höre das öffentliche Nachdenken über Arbeitslager für Roma in Ungarn. So beginnt es.

Man hat mir erklärt, die Regierung Orban, die gerade dabei ist alle demokratischen Institutionen in Ungarn unschädlich zu machen, sei immerhin demokratisch gewählt worden. Und ich denke, dass auch Hitler zunächst demokratisch gewählt wurde. Vergleiche hinken immer und natürlich ist Orban nicht Hitler. Aber die Anzeichen für eine fatal jener vom Beginn des vorigen Jahrhunderts gleichenden Entwicklung sind unübersehbar.

Deshalb darf man nie vergessen. Muss man immer wieder darüber reden, was Menschen im Stande sind anderen Menschen anzutun. Muss man kämpfen gegen all jene, die glauben, es gäbe Menschen erster und zweiter Klasse. Es gebe Menschen, die das Recht hätten, über Leben und Tod anderer zu entscheiden, ihnen ihr Menschenrecht abzuerkennen. Nie wieder darf es so weit kommen. Nie dürfen wir vergessen.

ZUR PERSON: 

Dr. Susanne Scholl, 1949 in Wien geboren – in einer jüdischen Familie. Studium der Slawistik in Rom und Leningrad. Langjährige ORF-Korrespondentin in Moskau. Mehrere Sachbücher, Romane und Lyrik-Bände. Seit 2009 freie Journalistin und Autorin in Wien.


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