Bettler: Zeit der Entscheidung

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  • Kerstin Kellermann ist seit 2003 ständige Reporterin des Augustin.

18.06.2012 | 0:51 | Kerstin Kellermann

Niemand darf den Bettlern, als Wanderer und „Wegelagerer“ zwischen den Welten, einen gewissen Überlebenswillen zum Vorwurf machen und sie mit Eisenstangen bedrohen, wenn sie auf Brot hoffen.

Es ist hart, aber es ist wahr: Am Wochenende verhinderte die Polizei einen weiteren Angriff mit Eisenstangen, den circa zwanzig junge Männer „mit Migrationshintergrund“ (APA) aus dem Salzburger Stadtteil Lehen auf „rumänische Bettlerbanden“ (und Kinder) verüben wollten, die in einem Abbruchhaus übernachteten. Dieser nächtliche Angriff hätte blutig enden können. Die Wiener Zeitung berichtete darüber, der Standard z. B. nicht.

Diese gefährliche Konfrontation zeigt, dass einige gesellschaftliche Debatten aber auch Handlungsformen dringend aktualisiert gehören und den realen existenziellen Problemen ins Auge geschaut werden muss.

Einerseits sollte die leidige Debatte um den „Migrationshintergrund“ endlich genauer ausgeführt, in Bezug auf soziale aber auch emotionale Ursachen, Folgen und Gründe untersucht werden: Wer ist existenziell von Armut und Hunger betroffen? Wer verfügt real  über Migrations- oder Fluchterfahrungen? Wer nur aus zweiter Hand über die Eltern? Wer hat  kein Zuhause? Wer hat Trennungserfahrungen als Kind, die für die emotionale Entwicklung wichtig sind? Eine ganze Generation von Gastarbeiter-Kindern wuchs z. B. großteils getrennt von ihren Eltern auf, pendelte zwischen Verwandten, zwischen Ländern hin und her – was ganz andere Ängste und Handlungsweisen bei vermeintlichen Bedrohungsszenarien ergibt, als wenn man über emotionale Sicherheit verfügt. Wer zeigt die klassischen Wutanfälle, den vulkanartigen Ausbruch alter Gefühle, wenn einem als Kind niemand geholfen hat? Eine gesellschaftspolitische Ursache wird sonst auf privates „Fehlverhalten“ reduziert.

Hilflose Helfer

In Bochum und Dortmund wurden Roma mit Hilfe von privaten Sicherheitsdiensten aus Abbruchhäusern vertrieben, da sich die Polizei weigerte, dem Auftrag von Immobiliengesellschaften zur Räumung nachzukommen. Verarmte Menschen aus Osteuropa gingen sogar so weit, dass sie das Haus einer großen Hilfsorganisation besetzten, einzogen, den Inhalt der Second Hand Kleiderkammer verkauften und sich gegen uniformierte „Sicherheitsmänner“ verteidigten. Diese Hilfsorganisation mußte sich ein neues Haus suchen, erzählte mir der Chefredakteur der Straßenzeitung „Bodo“ Bastian Pütter.

Um eine Redewendung zu gebrauchen: Es ist Feuer am Dach. Die mangelnde Berichterstattung über die Länder in Ost- und Südeuropa und die Verarmung großer Gruppen durch die „Transition“, den Übergang vom Kommunismus in einen verschärften Kapitalismus, rächt sich nun. Anstatt sich darüber aufzuregen, wie „frech“ und „undankbar“  doch die Bettler wären, sollte man als Österreicher eine „milde Gabe“ als eine Art Zoll sehen, als direkte Vergabe von „Steuergeldern“ (Teile des eigenen Einkommens steuern) an die Wenigen, die sich erfolgreich auf die Socken gemacht haben, um den Profiteuren des Unterganges des Sozialsystems in ihren eigenen Ländern ins Auge zu schauen. Kein Wunder, dass die Wanderer zwischen den Welten nicht so gut gelaunt sind, sich nicht mehr schmeichlerisch-galant wie der „L’Arabe pour le Francais“ (Pierre Bourdieu) verhalten, sondern der Meinung sind, „aufdringlich“ oder nicht, ihnen stände zumindest eine gewisse kleine Anzahl an Euro zu. Ein gewisser Zorn und Überlebenswillen darf den Bettlern mit Sicht auf ihre Lebensumstände nicht zum Vorwurf gemacht werden.

Banken, die ihre momentanen Verluste in einem osteuropäischen Land mithilfe der Gewinne in einem anderen locker ausgleichen können, Raiffeisen International, die in osteuropäischen Ländern bedeutend mehr als in Österreich verdient, Wirtschaftsforscher Felderer, der in der ORF-Pressestunde über das Informationsdefizit der BürgerInnen lächelt…- es herrscht schon ökonomisch so ein Mißverhältnis vor. Und nun stehen Menschen aus Osteuropa in der Gefahr verprügelt werden?!

Einbruch der Wirklichkeit

Andererseits hat sich für viele Österreicher hingegen „das wahre Leben“ sowieso schon verlagert: Reale Menschen werden zur „Belästigung“, Imaginationen und fiktive virtuelle Gemeinschaften werden zu „wahren Freunden“. Viele bleiben dabei außen vor. In dem Prozeß, in dem der öffentliche Raum mehr und mehr kommerzialisiert wird, stören echte, in der Wirklichkeit verhaftete Menschen – denen keine Imaginationswelt zur Ablenkung gegen die Widrigkeiten des Lebens bleibt. Wenn ein Mensch bettelt, als sähe er diese Person nie im Leben wieder, sich direkt vor seine Nase verfügt und nicht weichen will, stellt er sich über dessen irreale Welt außerhalb des Diesseits, die er nicht verstehen kann. Daher ist es auch nachvollziehbar, wieso sich „Gebürtige“ so persönlich angegriffen und beleidigt fühlen, wenn sie jemand an seine reale Existenz erinnert! Es gilt in ihrer Welt als Belästigung real zu sein und für seinen realen Körper reale Wünsche zu äußern. Es ist gemein, den Bettlern ihre Dringlichkeit abzusprechen.

Zeit der Entscheidung, finde ich: Steht man emotionalpolitisch auf Seiten derer, die sich, um zu nicht auf der Straße schlafen zu müssen, in leer stehenden Häusern niederlassen oder auf Seiten derer, die mit dem Leerstand Geld machen? Auf Seiten derer, die es sich heraus nehmen, mit „Piraten-Methoden“ überleben zu wollen, oder auf der Seite derer, denen es egal ist, dass noch 14.000 Roma aus Deutschland in den Kosovo abgeschoben werden? Was bringt mehr für alle Beteiligten: Einem Bettler einen Euro hergeben oder sich ärgern?

 


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