Ägypten: Verschwörungstheorien, Trauer und Zukunftsängste

01.03.2012 | 15:33 | Nermin Ismail

„Die Revolution hat noch gar nicht richtig begonnen“, meint ein ägyptischer Student. Nermin Ismail kommentiert aus Kairo. 

Kairo – Niemand hat die Wahrheit, jeder aber vielleicht ein Bruchteil davon. Doch niemand ist bereit dem Anderen zuzuhören und ist überzeugt „das“ genaue Bild der Wirklichkeit zu haben- über die tatsächliche Lage aufgeklärt zu sein. Die Bereitschaft zu reflektieren ist meist nicht vorhanden. Verschwörungstheorien sind im Umlauf.

Ich habe die Chance genutzt zu einer solch unstabilen Zeit in Ägypten- genauer gesagt in der Hauptstadt Kairo zu sein- und bin auf die Straße gegangen. Mit der Absicht  die Revolution zu dokumentieren und den Menschen zuzuhören. Dabei bin ich auf viele Geschichten und Erzählungen gestoßen, die mehr als nur interessant sind. Geschichten, die mich berührt und diese Revolution für mich spürbar gemacht haben.

Das Bild der naiven, unerfahrenen Jugendlichen

Es gäbe Menschen, die sich keine erfolgreiche ägyptische Revolution wünschen, darüber sind sich viele Ägypter und Ägypterinnen auf der Straße einig. Alle, die mit dem älteren Regime in Verbindung standen und weiterhin stehen wie auch inländische und ausländische Unternehmen sind ebenso damit gemeint.Die Jugendlichen, die Demonstrationen beim Innenministerium gestartet haben und das Gebäude in Brand setzen wollen- sind das Revolutionäre? Oder doch Menschen, die der Revolution den Erfolg absagen wollen? Wo ist die Grenze?  Was wird von wem aus welchem Grund erwartet? Die normale Lebensweise zu pflegen, zur Arbeit zu gehen und die Kinder in die Schule zu schicken oder doch alles zu stoppen, um dem Militär die Macht zu entreißen? Was ist besser?

Die koptische Kirche und Al-Azhar rufen zum Rückkehr zum Alltagsleben auf. Die Menschen sind hin- und hergerissen. Ihnen wird vieles eingeredet. Jeder hat seine Theorie. Die geläufigste Meinung ist im Moment: Die 6. April Bewegung und alle, die jetzt das Militär stürzen wollen, seien entweder vom Ausland instruiert oder unwissend. Denn wenn das Militär jetzt zurücktritt bzw. gezwungen wird zurückzutreten, wird nur mehr Chaos und Unsicherheit im Land herrschen. Chaos und Unsicherheit so lässt sich die Situation in Ägypten jetzt ebenso beschreiben.

Doch stehen viele Fragen offen: Warum setzt das Militär nicht ein klares Zeichen? Warum sucht es nicht den Dialog mit den Jugendliche, die die Revolution begonnen haben? Warum redet es ihre Errungenschaften klein? Warum versichert es nicht den Menschen, dass das Militär kein Interesse daran hat, die Macht weiterhin auszuüben, wenn es nicht so wäre?

Osama trauert

Nach dem Massaker in Port Said sind die meisten Menschen niedergeschlagen. Noch kann niemand nachvollziehen- warum bei einem so großen Event keine Sicherheitskräfte tatkräftig eingegriffen haben. „Jeder von uns kennt zumindest eine Person, die am 1.Februar gestorben ist oder verletzt wurde. In jedem Haus wird noch getrauert“, erzählt mir Osama. Der 22-jährige Medizinstudent zählt nicht zu den aussichts- und mittellosen Jugendlichen Ägyptens. „Die Jugend, die die Revolution geführt hat, meine Freunde und auch ich, stehen nicht hinter der Revolution weil wir nichts Besseres  zu tun haben als am Tahrirplatz zu zelten- oder weil wir keine Zukunftsperspektiven haben. Nein! Im Gegenteil uns geht es im Vergleich zu anderen gut. Aber wir wollen Gerechtigkeit und Chancen für alle!“ Osama versucht sich zusammen zu reißen. Es tut ihm weh die, von Kunststudenten an den Mauern portraitierten, verstorbenen jungen Menschen- seine Freunde und Bekannte- zu sehen. Anteilnahme und Kümmernis ergreifen auch mich. Es ist ruhig. Nur wenige Menschen gehen durch diese Straße. Mehrere Gebäude sind verbrannt. Fenster gebrochen. Panzer stehen an mehrern Ecken. Hier sind mehrere Menschen umgekommen. Nicht nur vor einem Jahr als Mubarak noch an der Macht war. Auch danach. Osamas Bruder war vor einigen Monaten hier. Ein Nervengas, das unsichtbar ist und sich nur durch seine Auswirkung auf die Nerven bemerkbar macht, habe sich am Tahrirplatz und Umgebung verbreitet. Neurologisch ausgelöste Krampfanfälle waren die Folge. Vielleicht stehen die paar Rettungswagen deswegen hier. Mubarak muss sich wegen der an den Demonstranten ausgeübten Gewalt, den 800 Toten vor Gericht verantworten, doch wer rechnet mit dem Militär und seinen Missetaten ab? Weiter vorne sind die Straßen mit großen Steinblöcken blockiert. Diese Straßen führen in das Ministerium für Inneres. Das Militär fürchtet Ausschreitungen. Warum wohl?

Wie geht es weiter? Es sei keine Woche vergangen ohne, dass Unruhen und Ausschreitungen geschehen sind. Dies sei eine Taktik der Anhänger Mubaraks, um die Revolution zu bekämpfen. „Es wird noch lange dauern. Die Revolution hat noch gar nicht richtig begonnen“, fürchtet Osama. Das Militär habe noch nicht bei allen das Vertrauen verloren und würde es, wenn es so weitergeht, sicherlich missbrauchen. Doch macht sich der Unmut vieler Menschen breit:“yasqot hukm al ´askar“-„Nieder mit der Militärmacht“ ist auf den Straßen an den Wänden geschrieben.


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