Wenn die Flüchtlings-Falle zuschnappt

22.01.2013 | 14:04 | Kerstin Kellermann

GASTKOMMENTAR. Was macht ein Flüchtling wirklich, wenn er kein Asyl erhält, aber es kein Rückübernahme-Abkommen mit seinem Herkunftsland gibt? Wie können diese Menschen im Niemandsland überleben?

Ein „interkulturelles Missverständnis“ der Flüchtlinge in der Votivkirche ist es, dass in Pakistan und Indien Hungerstreik ein beliebtes und akzeptiertes Mittel ist, um Ziele wirklich zu erreichen, in Österreich aber nicht. Angeblich gehen sogar Mütter in Hungerstreik, wenn ihre Kinder protestieren. Deswegen erzählte Shani, einer der hungerstreikenden Flüchtlinge in Wien, seiner Mutter über Skype nichts von seinen selbstschädigenden Protestformen, die ihn schon drei Tage auf die Intensivstation brachten. In österreichischen Schubhaft-Gefängnissen ist der Hungerstreik aber ein so alltägliches Ereignis, dass die Beamten davon nicht mehr beeindruckt sind. Es dringt selten eine Nachricht nach außen durch, angeblich aus Angst vor „Nachahmungs-Tätern“, wie einmal der Chef des Gefängnisses am Hernalser Gürtel meinte.

Obdachlose Afghanen

Es machen sich nur wenige Verantwortliche so wirklich klar, was es bedeutet, wenn man zweimal „negativ“ erhält, weder legalen Status noch materielle Basis bekommt, aber auch nicht abgeschoben werden kann, da es kein Rückübernahme-Abkommen mit dem jeweiligen Land gibt. Oder wie man in dem Zeitraum leben soll, während man auf das Heimreisezertifikat wartet? Im letzten Jahr gingen vermehrt Afghanen in diese Flüchtlingsfalle, die vorher eine hohe Anerkennungsrate verzeichneten, inzwischen aber vermehrt abgelehnt werden. Mit dem Jahr 2014 sind in Afghanistan der Abzug der US-Truppen, neue Kampftätigkeiten und Flüchtlingswellen zu erwarten.

Nun gibt es, für Österreich erstmalig seit 2005 wieder obdachlose Afghanen, sogar von der gefährdeten Volksgruppe der Hazara. Der Wiener Bürgermeister Michael  Häupl ist deswegen so beleidigt auf die Hungerstreikenden in der Votivkirche, weil Wien im Gegensatz zu anderen Bundesländern auch bei Ablehnung weiter Grundversorgung gewährt, bis sich die Rückkehr ins Fluchtland abzeichnet. Vorher war die „Flüchtlingsfalle“ völlig aussichtslos und es hing vom Charakter und der Widerstandfähigkeit des Flüchtlings ab, wie lange er durchhielt: Der junge Äthiopier Samuel Teferie verlor sich leider in dieser existenziellen Flüchtlingsfalle, wiederholt in Schubhaft, aber nicht abschiebbar, machte er seinem Leben in der Donau ein Ende – nach zwei Hilfeschreien, die auf der Psychiatrie endeten („In der Zwickmühle der Gesetze“, mit Sintayehu Tsehay, Der Standard, 24.11. 2010).

Weder vor noch zurück

1938 erhielt der 17jährige Herschel Grynszpan einen Brief seines Vaters. Die Nationalsozialisten, hieß es in dem Schreiben, würden die polnischen Juden aus Deutschland  ausweisen. In Polen wiederum durften sie nicht einreisen. Nun müßten sie im Niemandsland ohne Lebensmittel und ohne Schutz vor der Witterung kampieren. Erbost über das Schicksal seiner Eltern erschoß Herschel in der deutschen Botschaft in Paris den Dritten Sekretär, Ernst von Rath, was das Reichspropagandaministerium als einmalige Chance erkannte und die Nazis als Vorwand für das Reichspogrom am 9. und 10. November nahmen (in Zvi Aharoni/Wilhelm Dietl: „Der Jäger. Operation Eichmann: Was wirklich geschah“).

Man darf niemanden in die gefährliche Situation bringen, wo man weder vor noch zurück, aber auch schwer auf der Stelle bleiben kann. Insofern ist es existenziell bedrohlich, jemanden nicht in sichere Strukturen aufnehmen zu wollen, aber auch nicht in andere Länder weiter reisen zu lassen. Der Preis ist zu hoch und die Flüchtlinge in der Votivkirche, mit zum Großteil noch offenen Verfahren, tragen ab der dritten Woche Hungerstreik, die bereits erreicht sind, bleibende Schäden davon.

Schutz gewähren

Derzeit wird pakistanischen Flüchtlingen aus dem gefährlichen Grenzgebiet zu Afghanistan in negativen Asylbescheiden empfohlen, in andere Gebiete Pakistans auszuweichen. Wie weit der Einfluss der pakistanischen Taliban reicht, die als „private Verfolger“ gelten, obwohl es anscheinend Verbindungen zum Geheimdienst der Regierung gibt, ist unklar. Die Situation in Pakistan ist von Gewalt geprägt und es gibt im Moment Umsturz-Gerüchte. Die derzeitige österreichische Regierung sollte daher dringend den wenigen Flüchtlingen aus dem gefährlichen Grenzgebiet zu Afghanistan, die Österreich erreichten, irgendeine Form des Schutzes gewähren.

In den 1970er Jahren verbuchte die Kronenzeitung ihren großen Aufstieg durch ihre Kolporteure auf der Straße, unter ihnen waren viele pakistanische Flüchtlinge – könnte sich die Krone nicht jobtechnisch dieser neuen Generation annehmen, die nun hungerstreikend im Kirchenasyl sitzt?

 


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