Traiskirchen und das „ungesunde Damoklesschwert“

31.03.2012 | 10:35 | Kerstin Kellermann

In der Erstaufnahmstelle Ost in Traiskirchen sitzen derzeit 300 Jugendliche für Monate fest, weil es keine anderen Unterkunfts-Plätze für sie gibt. Wie Flüchtlingskindern, die auf der Psychiatrie landen, Wege in die psychische Genesung und zu mehr Widerstandskraft aufgezeigt werden könnte, überlegte eine Kinderschutz-Tagung in Wien.

Nicht wenige Flüchtlingskinder dürften in Österreich zumindest für eine Zeitlang auf der Psychiatrie landen. Wegen einer so genannten „Zwangs-“ oder „Identitätsstörung“ oder weil eine Elternperson durch die Flucht so geschwächt ist, dass sie ihre Kinder nicht mehr schützen und versorgen kann. „Oft ist nur ihre Abwehr sichtbar. Es geht um den Verlust des Vertrauens in eine schützende Welt, die Kinder hoffen auf Schutz, sie fühlen eine innere Leere und sind sehr misstrauisch“, berichtet die Psychotherapeutin Schmucker-Csokor, die Leiterin des Kinderschutz-Lehrganges in der Hinterbrühl. „Oft ist bei den Gesprächen ein ‚Toter Dritter’ beteiligt, den es gar nicht mehr gibt. Wäre es nicht an der Zeit unser Wissen auf dem Gebiet des Kinderschutzes auch auf junge Flüchtlinge auszudehnen?“

Kinderschutz auf der Flucht
„Das Verhältnis von Psychiatrie und Flüchtlingsbetreuung war eine der Wiegen für unsere Tagung“, sagt der Moderator der Tagung „Kinderschutz auf der Flucht“ im Europahaus der Österreichischen JungArbeiterBewegung an der Linzer Straße, wo Wien schon wie ein Dorf wirkt. Erstmalig versammelten sich hier über 200 Menschen, die in der Jugendwohlfahrt, in Flüchtlingseinrichtungen oder als ÄrztInnen mit jungen Flüchtlingen arbeiten. Der Titel der Konferenz klingt ein bisschen doppeldeutig – als ob die kinderbeschützenden Institutionen auf der Flucht vor den Flüchtlingen wären. Was zum Teil in Beschwörungen durchscheint, wie wenn am Schluss der Konferenz ein Zuhörer ausführt, dass das Kindeswohl im Vordergrund stehen sollte und nicht das Geld und dass doch im „fünftreichsten Land der EU 1500 Kinder mitversorgt werden können, die primär Kinder und erst an zweiter Stelle Flüchtlinge sind“.
Auf der Tagung ging es nun um die Kommunikation zwischen den einzelnen HelferInnen-Systemen, um eine Vertrauensbasis, die ausgebaut werden muss. So existieren in Niederösterreich gute Netze im Bereich Gewalt gegen Kinder – aber die Flüchtlingskinder scheinen bisher nicht inkludiert zu sein.
„Die Zahl der unter 14jährigen nahm im letzten Jahr zu, in Geschwisterkonstellationen sind auch Achtjährige dabei“, referiert Heinz Fronek von der asylkoordination Österreich. „In der Grundversorgung sind um die 940 ‚Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge’. In Traiskirchen, der Erstaufnahmstelle Ost, sitzen derzeit 300 meist afghanische Jugendliche für Monate fest. Da es in anderen Unterkünften keine Plätze für sie gibt, sind sie viel länger als die vorgesehenen zwei Wochen im Flüchtlingslager. Viele schaffen es gar nicht ins inhaltliche Asylverfahren, sondern gehen in der Erstaufnahmestelle verloren. Nicht wenige landen in der Zinnergasse, dem so genannten gelinderen Mittel, wo es keine spezielle Betreuung für Jugendliche gibt.“ Fronek kritisiert die häufige Anordnung von Altersfeststellungen, CT-Untersuchungen der Schulter mit sehr hoher Strahlenbelastung und dass „in letzter Zeit auch oft ein Strafverfahren eingeleitet wird – wegen Erschleichung von sozialen Leistungen, auch wenn der Staat genau weiß, dass er kein Geld sehen wird!“. Seit Mai 2004 musste Österreich nach einer EU-Richtlinie erstmalig allen UMF’s einen speziellen Platz zur Verfügung stellen, „aber nicht von der Jugendwohlfahrt, sondern von der Flüchtlingshilfe her und die gaben sich schnell zufrieden! Es existierten keine ausreichenden Standards für Jugendliche“. Die Tagsätze sind seit 2004 nicht inflationsbereinigt, was Einrichtungen in Probleme bringt. „In der Steiermark versorgen zwei private Flüchtlingswirte mehr Jugendliche als die Stadt Wien. Die Jugendwohlfahrt schaut lieber nicht nach“, sagt Fronek, der sich auch die Mühe machte den von der Innenministerin verbreiteten Mythos der „Ankerkinder“ nachzurecherchieren: „Im Jahre 2011 waren es in Österreich gerade 17 Minderjährige, die ihre Eltern nachholen konnten. Wahrlich eine würdige Zahl für eine Kampagne!“ Da die Jugendlichen keine Lehre machen dürfen, die als Beschäftigung gilt, keine Ausbildung und keine Arbeit, sind Probleme vorprogrammiert. „Nach einer Behandlung wegen Depression und Suizidgefahr unterschreibe ich keine Entlassung in ein Gasthaus in der Peripherie, wenn ein Jugendlicher keine Tagestruktur vorfindet“, sagt eine Psychiaterin, „wenn ein Rückfall absehbar ist. Fernsehschauen verhindert keinen Selbstmord. Das ergibt oft Diskussionen mit dem Landes Flüchtlingsbüro.“

Emotionale„Anpassungsstörungen“
„Junge Flüchtlinge haben halt zwischendurch bei der ganzen Warterei ohne Asylbescheid einmal eine suizidiale Krise“, schüttelt eine Assistenzärztin aus Salzburg später im Workshop ihren Kopf. Das laufe dann unter der Diagnose „Anpassungsstörung“. Die beiden Kinderärzte Schnetzer und Hauser von der Kinderabteilung im Mödlinger Krankenhaus sehen sich im Alltag Kindern und Jugendlichen aus dem Flüchtlingslager Traiskirchen gegenüber. „Es gibt eine relativ große Gruppe behinderter Kinder, solche mit psychosomatischen Beschwerden als Folge von Traumatisierung oder welche mit kinderpsychiatrischen Krankheiten“, führt Martin Schnetzer aus. „Die Versorgung ist in den Herkunftsländern nicht gegeben. Wenn z.B. ein Kind mit Diabetes abgeschoben wird, schreiben wir den Behörden, dass es dadurch eine kürzere Lebenserwartung hat. Es ist auch nicht gesund, wenn ständig das Damoklesschwert im Raum hängt.“ Erwin Hauser meint, dass es ihnen gelungen sei, dass noch nie ein (schwerst) behindertes Kind abgeschoben wurde. Hauser ist der Leiter der einzigen Kinderabteilung in Niederösterreich, wo im Moment 80 Prozent der jungen Flüchtlinge leben, die über eine psychosomatische Station verfügt. „Emotionale Störungen wie Ängste und Verstimmungen oder massive Trennungsängste sind posttraumatische Belastungsstörungen“, erklärt er. „Erinnerungslücken inklusive. Wenn denen dann die Behörde vorwirft, sie haben gelogen, ist das absurd.“ Zwei Frauen werfen aus ihrer beruflichen Krankenhaus-Erfahrung ein, dass eine gründliche Anamnese oft gar nicht erwünscht ist. „Das Jugendamt, dass das zahlen müsste, sagt dann: Brauchts eh nix abklären, wir zahlen das nicht!“ Außerdem sei bei Subsidiären oft nur der Vater versichert und es gilt der Selbstbehalt, von dem Flüchtlinge nichts zurück bekommen.
„Viele, die abgeschoben werden sollten, landen auf der Erwachsenenpsychiatrie“, berichtet ein Herr von der Diakonie, der gar nicht zu reden aufhören kann. In Bad Vöslau, dem „gelinderen Mittel“, säßen Jugendliche in einer Art von Schubhaft ohne Hafträume und Versicherung. Dort käme es bei Krankheiten zur Direktverrechnung mit der Polizei: „Der hat solche Zahnschmerzen, könnt ihr das bitte übernehmen?“ Die Diakonie veranstaltet Kurse in Suzidprävention und in „Lernen mit der Erkrankung zu leben“. „Wir können nur Erstversorgung anbieten, dass der Jugendliche den Selbstmordversuch überlebt. Entgiften z.B., den eine Nacht bis drei Tage behalten“, meint Dr. Schnetzer dazwischen. In der Hinterbrühl gebe es zu wenig Betten für die Jugendlichen, sagt der Diakonie-Vertreter noch.

Leider ist wieder einmal alles eine Geldfrage: In der Jugendwohlfahrt erhalte eine Organisation nur den halben Tagsatz wie für österreichische Jugendliche. Der Betrieb sei dann nicht mehr kostendeckend zu führen, deswegen bieten seriöse Organisationen gar nicht mehr an, resümiert der Herr von der Diakonie mit resigniertem Lächeln. Die Realisierung der neuen Idee, Flüchtlingskinder bei Pflegefamilien aufnehmen zu lassen, könnte ganz schnell zu einer Überforderung beider Seiten führen. Mit Traumafolgen, der Unruhe durch die Flucht aber auch der Eigenständigkeit der Flüchtlingskinder umzugehen, will gelernt sein und braucht Unterstützung und Wissen. Das Thema „Selbstmordversuche und Selbstverletzungen von Flüchtlingen“ wird angeblich von den Behörden „wegen Angst vor Nachahmern“ nicht öffentlich abgehandelt. Es müsste dringend ein anderes Finanzierungs-Modell als Tagsätze eingeführt werden, um die „psychozoziale Notversorgung“ der Flüchtlingskinder und Jugendlichen zu gewährleisten.


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