Tschetschenen: Flüchtlinge eines vergessenen Kriegs

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AUF EINEN BLICK
  • Das Streben der überwiegend muslimischen Tschetschenennach Unabhängigkeit hat Kriege und politische Verfolgung ausgelöst. Mehr als 500.000 flüchteten, 22.000 davon kamen nach Österreich. Ihr Schicksal beleuchtet das Buch Chechens in the European Union, das Alexander Janda, Norbert Leitner und Mathias Vogt verfasst haben.

29.10.2008 | 10:53 | Duygu Özkan

In Österreich finden vergleichsweise viele Menschen Zuflucht vor einem vergessenen Konflikt am Rande Europas – Tschetschenen in der österreichischen Diaspora.

WIEN. „Ich wollte unbedingt nach Österreich, hier habe ich Cousins und viele Freunde.“ Das sagt Ibragim Nanayew, ein Flüchtling aus Tschetschenien. Er ist seit drei Jahren in Österreich – mit ihm sind seine Frau und das erste Kind gekommen; und hier hat seine Frau noch zwei weitere Kinder geboren. Das Schicksal dieser Familie steht stellvertretend für Tausende, die vor diesem vergessenen Konflikt am Rande Europas geflohen sind.

Die Flucht von mehr als einer halben Million Menschen, die ihrer Heimat im Kaukasus den Rücken gekehrt haben, untersucht ein Buch, das am Montag in Wien vorgestellt worden ist. Besonders wird darin beleuchtet, wie sie sich in der neuen Heimat zurechtfinden. Und vor welche Probleme sie sich dabei gestellt sehen.

Ausgrenzung an der Universität

Der mittlerweile 26-Jährige Nanayew ist einer von mehr als 22.000Tschetschenen in Österreich. Er stammt aus der Gegend um Grosny, der Hauptstadt Tschetscheniens. Der Krieg ist ins Land gekommen, als Nanajew noch ein Kind war – nach dem Zerfall der Sowjetunion 1991 hatte sich das autonome Gebiet für unabhängig erklärt, was allerdings von Russland nicht anerkannt worden war. Russische Truppen marschierten ein, seither prägen Krieg, Ausnahmezustand und Verfolgung den Alltag.Nanayew geht nach Moskau, um Jus zu studieren. Schon bald stellt er fest: „Ich war der einzige Tschetschene und bin sehr aufgefallen.“ Nicht zu seinem Vorteil: Nanajew wird ausgegrenzt, er erlebt die Feindschaft hautnah.

2004 kommt der tschetschenische Präsident Dudajew bei einem Attentat ums Leben. Menschenrechtsorganisationen berichten von Zwangsumsiedlungen und systematischer Diskriminierung. Nanayew bricht sein Studium ab, kehrt nach Tschetschenien zurück und entscheidet sich zur Flucht. Die flüchtigen Tschetschenen kommen mit russischen Papieren nach Mitteleuropa, oft auch nur durch das Zutun von Schlepperorganisationen.

Innerhalb der EU sind außer Österreich vor allem Polen, Deutschland, Frankreich und Belgien die häufigsten Ziele von Flüchtlingen aus der Kaukasus-Region. Im internationalen Vergleich ist die Anerkennungsquote in Österreich am höchsten, 2004 sind sogar neun von zehn Asylansuchen im Sinne der Antragsteller positiv beurteilt worden.

Allerdings steht nicht dieser Umstand im Vordergrund bei der Wahl des Ziellandes; in erster Linie ist es das Vorhandensein eines Netzwerks aus Familienangehörigen und Freunden. Die tschetschenische Gesellschaft ist weitgehend von traditionellen Familienstrukturen geprägt. Deshalb wird auch in der Diaspora versucht, an diese Traditionen anzuknüpfen. Allerdings ist dies nicht ohne weiteres möglich: „In jeder Familie sind Leute gestorben,“ berichtet Nanayew.

Jugendliche als doppelte Verlierer

„Wenn meine Kinder krank sind, weiß ich, dass uns hier geholfen wird. In Russland würde das niemanden interessieren. Und die Sozialarbeiterin ist fast schon wie eine Mutter für uns.“ Deutschkurse nimmt er regelmäßig in Anspruch, dennoch bleibt eine sprachliche Barriere. Diese Hürde ist allerdings im Vergleich zu anderen Anpassungsschwierigkeiten gering: Denn so gut wie alle Flüchtlinge leiden auch psychisch an den Folgen des Krieges und brauchen professionelle Hilfe.

Jugendliche sind in besonderem Maße betroffen: Die meisten haben beide miterlebt. „Sie sind die doppelten Verlierer“, sagt die Sozialarbeiterin Edith Vasilyev, „durch den Krieg konnten sie sich in Tschetschenien nicht sozialisieren.“ Vielen von ihnen hat der Krieg die unbeschwerten Jahre des Aufwachsens genommen – ein Defizit, das ihnen auch in sicherer Umgebung und Jahre später zu schaffen macht. Nach wie vor sind sie auf der Suche nach Stabilität und einem Weg, ihr Trauma überwinden zu können.

(DUYGU ÖZKAN, „Die Presse“, Print-Ausgabe, 29.10.2008)


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