Louis-Henri Seukwa: „Deutschland muss den Völkermord an Herero und Nama beim Namen nennen“
05.02.2017 | 13:44 | REDAKTION
Am 18. Februar 2002 hielt Prof. Dr. Louis-Henri Seukwa diese Rede in der Hamburger Sankt Michaelis Kirche. Darin plädiert er für die Pflicht der Erinnerung in einer Theologie der Gerechtigkeit und Versöhnung.
Die Kirche St. Michaelis bildet in der Hansestadt Hamburg zweifellos eine der am meisten besuchten touristischen Sehenswürdigkeiten. Neben manchem anderen Sehenswerten finden ihre BesucherInnen in der Kirche auch die Gedenktafel, die uns heute hierhergeführt hat.
Diese Tafel ist zur Erinnerung und zur Würdigung der deutschen Soldaten angebracht worden, die im Verlauf der deutschen Kolonisierung u.a. in Afrika gefallen sind.
Um es genauer zu sagen: Sie fielen aufgrund des Widerstands der Völker der Herero und Nama gegenüber der Besetzung ihres Landes durch die Deutschen zwischen 1904 und 1907. Die Notwendigkeit, sich mit einem solchen Thema zu befassen, begründet sich unter anderem darin, daß in einer Welt zunehmender Wechselwirkungen die Nachkommen der Opfer und der Täter dieser tragischen Ereignisse in der Geschichte der Völker auf die eine oder andere Art zum Zusammenleben aufgerufen werden. Wenn die Kirche ihre Verantwortung als Institution der Fürsorge für den Frieden zwischen den Menschen ungeachtet ihrer Hautfarbe oder Herkunft ernstnimmt, scheint uns eine ihrer hauptsächlichen Aufgaben die Pflicht des Erinnerns zu sein, die die unumgängliche Bedingung einer gerechten Versöhnung darstellt.
In dieser Hinsicht ist die Bemühung um den Bau von Denkmälern nicht nur im Rahmen des Freizeittourismus von Bedeutung, sondern bezeugt vielmehr eine tatsächliche pädagogische Absicht der gesellschaftlichen Bildung der nachwachsenden Generation. Denkmäler bringen ihnen nicht nur die Vergangenheit nahe, sondern sollen bei ihnen auch das Nachdenken, unter anderem über die Verbrechen gegen die Menschlichkeit, anregen. Die in Ihrer Kirche den Tausenden ihrer BesucherInnen gezeigte Gedenktafel zur Würdigung der deutschen Soldaten aus Hamburg, die „für Kaiser und Reich“ in Afrika und China starben, scheint uns unter diesem Gesichtspunkt problematisch. Um unsere Haltung dazu zu erläutern, werden wir uns hier auf den Fall der bei der Niederschlagung des Aufstandes der
Herero und Nama in Deutsch-Südwestafrika gefallenen Hamburger Soldaten beschränken.
Die historischen Fakten
Deutsch-Südwestafrika, das heutige Namibia, stellt in der deutschen Kolonialgeschichte – wie u.a. Algerien für Frankreich – insofern eine Besonderheit dar, als es im Gegensatz zu den übrigen Kolonialgebieten nicht nur zur Ausbeutung von Rohstoffen diente, sondern vor allem die Funktion einer Siedlungskolonie für Deutsche bekam. Um dieses Ziel zu erreichen, förderte die Deutsche Kolonialverwaltung in der Folge von Missions- und Handelsgesellschaften eine massive Besiedlung Namibias durch deutsche Siedler. Das mit dieser Besiedlung verbundene ökonomische Interesse bedeutete für die einheimische Bevölkerung, vor allem die Herero – ein damals halbnomadisch lebendes Volk von Viehzüchtern, die nördlich von Windhoek bis zum Ovamboland ihre Weidegebiete hatten – nichts anderes als die systematische Enteignung und Ausplünderung ihrer Lebensgrundlage: in diesem Fall Land und Vieh. Das folgende Zitat dazu stammt von Paul Rohrbach, dem Vorsitzenden der Siedlerkommission Namibias von 1903 bis 1906: „Die Entscheidung, im südlichen Afrika Kolonien zu errichten, bedeutet nichts anderes, als daß sich einheimische Stämme von dem Land zurückziehen müssen, auf dem sie bisher ihr
Vieh geweidet haben, um die weißen Siedler auf demselben Land ihr Vieh weiden zu lassen“.
Im Laufe der Jahre wuchs der Widerstand der Herero gegen diese Behandlung, und 1903 kam es zu den ersten offenen Aufständen, während derer etwa 150 Deutsche starben. Als Reaktion der deutschen Kolonialverwaltung wurden 17.000 Soldaten nach Namibia geschickt und der vergleichsweise „gemäßigte“ Gouverneur Theodor Leutwein durch den General von Trotha ersetzt. Dieser hatte schon bei der blutigen Niederschlagung des Boxeraufstandes in China im Jahre 1901 mitgewirkt und sich durch sein hartes Vorgehen einen Namen gemacht. Kurz nach seinem Amtsantritt in Namibia wird er folgendermaßen zitiert: „Ich kenne genügend Stämme in Afrika. Sie gleichen sich alle in dem Gedankengang, daß sie nur der Gewalt weichen. Diese Gewalt mit krassem Terrorismus und selbst mit Grausamkeit auszuüben, war und ist meine Politik. Ich vernichte die aufständischen Stämme in Strömen von Blut und in Strömen von Geld.“ [aus den Akten des Reichskolonialamtes Nr. 2089, S. 100-102]
Ein Völkermord
Am 2. Oktober 1904, nachdem die kriegerischen Auseinandersetzungen mit den Herero durch einen Sieg der deutschen Truppen eigentlich schon beendet waren, ließ General von Trotha bei Osombo-Windimbe demonstrativ Gefangene aufhängen und erteilte folgenden Befehl an die deutschen Soldaten, den er auch an die Herero übermittelte: „ Ich, der große General der deutschen Soldaten, sende diesen Brief an das Volk der Hereros (…) Das Volk der Hereros muß jetzt das Land verlassen. Wenn das Volk dies nicht tut, werde
ich es mit dem großen Rohr dazu zwingen. Innerhalb der deutschen Grenzen wird jeder Herero, mit oder ohne Gewehr, mit oder ohne Vieh, erschossen. Ich nehme keine Weiber oder Kinder mehr auf, treibe sie zu ihrem Volk zurück oder lasse auf sie schießen (…) Der große
General des mächtigen Kaisers: von Trotha“ [Bundesarchiv Postdam. Akten des Reichskolonialamtes, 10-01 2089 01.7, Abschrift Kommand. Schutztruppe 1 Nr. 3737 ] Was folgte, war die Vertreibung von großen Teilen des Herero-Volkes in die Omaheke- Sandwüste, wo sie unter den Augen der deutschen Soldaten verdursteten. Diese hatten den Auftrag bekommen, die wenigen Wasserlöcher zu überwachen und jeden sich nähernden Herero zu erschießen.
Der Bericht des deutschen Generalstabs faßte die Geschehnisse wie folgt zusammen: „Diese kühne Unternehmung zeigt die rücksichtslose Energie der deutschen Führung bei der Verfolgung des geschlagenen Feindes in glänzendem Licht. Keine Mühen, keine Entbehrungen wurden gescheut, um dem Feinde den letzten Rest seiner Widerstandskraft zu rauben; wie ein halb zu Tode gehetztes Wild war er von Wasserstelle zu Wasserstelle gescheucht, bis er schließlich willenlos ein Opfer der Natur seines eigenen Landes wurde. Die wasserlose Omaheke sollte vollenden, was die deutschen Waffen begonnen hatten: die Vernichtung des Hererovolkes. Die mit eiserner Strenge monatelang durchgeführte Absperrung des Sandfeldes vollendete das Werk der Vernichtung (…) Das Strafgericht hatte sein Ende gefunden. Die Herero hatten aufgehört, ein selbständiger Volkstamm zu sein.“ [Aus „Die Kämpfe der deutschen Truppen in Südwestafrika“, veröffentlichter Bericht des deutschen Generalstabs, Berlin 1906/07]
Wenn es nach General von Trotha ging, sollten die Herero nicht nur im militärischen Sinne vernichtet werden. Der Rapport, den er am 4. Oktober 1904 an den Chef des Generalstabs schickte und der von diesem auch gebilligt wurde, formuliert vielmehr ein weiterreichendes
Ziel: „Meine genaue Kenntnis so vieler zentralafrikanischer Stämme, Bantu und anderer, hat mir überall die überzeugende Notwendigkeit vor Augen geführt, dass sich der Neger keinem Vertrag, sondern nur der rohen Gewalt beugt. Deshalb halte ich es für richtiger, dass die
Nation in sich untergeht, und nicht noch unsere Soldaten infiziert und an Wasser und Nahrungsmitteln beeinträchtigt. (…) Sie müssen jetzt im Sand Feld untergehen (…) Dieser Aufstand ist und bleibt der Anfang eines Rassenkampfes, den ich schon 1897 in meinem
Bericht an den Reichskanzler für Ostafrika vorausgesagt habe“ [ Bundesarchiv Potsdam, Akten des Reichskolonialamtes 10. 01 2089 BI. 5/6]
In einem Schreiben vom 11. Dezember 1904 ließ Reichskanzler Fürst von Büllow General von Trotha anweisen, „Konzentrationslager für die einstweilige Unterbringung und Unterhaltung der Reste des Hererovolkes“ einzurichten. Dieser terminus technicus und auch
das dazu gehörende Vorgehen war damals eine „Innovation“. Für viele Herero, die nicht im Sand Feld verdurstet oder hingerichtet worden waren, begann in diesen Lagern das eigentliche Martyrium. Sie starben reihenweise an physischer und psychischer Entkräftung sowie an den Krankheiten, die sie sich unter den miserablen hygienischen Bedingungen zuzogen. Gleichwohl setzte General von Trotha seine Operationen gegen die Herero im Feld mit großer Härte fort. Als die Besatzungstruppen im September 1905 noch einmal das nördliche Zentralnamibia durchkämmten, wurden 260 Herero getötet und 800 in das Lager abgeführt [Zahlen aus Karl Schwabe: Der Krieg in Deutsch- Südwest, 1094- 1096; Berlin 1907]
1907/08 erließ die Reichsregierung eine „Eingeborenenverordnung“, die das Zusammenleben von mehr als zehn Familien sowie den Besitz an Land und Vieh untersagte. Die Verordnung hatte eindeutig das Ziel, den Völkern Namibias die Überlebensgrundlage systematisch zu entziehen. Dies wurde vorgenommen, obwohl durch den Krieg, die Bedingungen in den Konzentrationslagern und durch die Vernichtungsaktionen in der Omaheke-Wüste bereits 80% der Herero und 50% der Nama umgekommen waren. [Die Zahl der Herero vor dem Völkermord wurde von dem deutschen Missionar Jakob Irle auf insgesamt 80.000 geschätzt (Aus: „Was soll aus den Herero werden?“). 1911 lebten im Zugriff der Kolonialverwaltung noch etwa 15.130 Herero]
Die Vorgehensweise der Reichsregierung zielte offensichtlich auf eine völlige Vernichtung der Völker Namibias hin. Die Ereignisse um und nach dem Vernichtungsbefehl von General von Trotha im Jahre 1904 stützen damit voll die Einschätzung des Völkerrechtlers Prof. Dr. Hinz aus Hannover. Er sagt: „Auch wenn nicht zu bestreiten ist, daß die Entscheidung zur Vernichtung zunächst einmal von v. Trotha gefällt worden ist, so ist gleichwohl festzuhalten, daß die Durchführung der Vernichtungsstrategie mit Wissen und Willen der Kolonial- und Militärverwaltung im Deutschen Reich geschah“.
Im Völkerrecht ist im Rahmen der ‚Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes‘ der Begriff ‚Völkermord‘ folgendermaßen definiert: „In dieser Konvention bedeutet Völkermord eine der folgenden Handlungen, die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören.“ [ vgl. Artikel II der Konvention vom 9. Dezember 1948.] Die Darstellung dieser historischen Fakten diente uns dazu, noch einmal deutlich zu machen, daß wir uns hier heute mit einer Gedenktafel beschäftigen, die zu Ehren von Menschen angebracht wurde, durch die einer der ersten Völkermorde in der deutschen Geschichte verübt wurde.
Worum geht es uns nun?
Ich habe dieser Darstellung den Titel „Die Pflicht des Erinnerns in einer Theologie der Gerechtigkeit und Versöhnung“ gegeben. Dieser Titel faßt unser Anliegen gut zusammen. Angesichts des Ortes, an dem wir uns heute treffen, hoffe ich einen theologischen Bezug herstellen zu dürfen, um meine Argumentation zu entfalten. Versöhnung ist ein in höchstem Maße christliches Konzept, das seine paradigmatische Formulierung in diesen Empfehlungen des Christus findet: „Darum, wenn du deine Gabe auf dem Altar opferst und wirst allda eingedenk, daß dein Bruder etwas wider dich habe, so laß allda vor dem Altar deine Gabe und gehe zuvor hin und versöhne dich mit deinem Bruder, und alsdann komm und opfere deine Gabe.“ (Matthäus 5, Vers 23, 24)
Diese Aussage versteht sich, angeführt in einem Kontext wie dem unsrigen, nicht von selbst. Sie hat zur Vorbedingung die Reue durch die Schuldanerkennung der begangenen Tat des Täters gegenüber seinem Opfer, seinen Willen, diese zu begleichen und schließlich das
Versprechen, eine solche Tat in der Zukunft nicht zu wiederholen. Folglich ist die Versöhnung keine einfache, rein äußerlich-formale Verständigung, die das Innere des Bewußtseins nicht berührt, und auch keine schlichte Übereinkunft, die die Schwere des Problems verhüllt, verfälscht oder rechtfertigt. Sie erfordert die Kenntnis der Wahrheit. Denn nur die Kenntnis der Wahrheit kann die Verletzungen heilen und einen Frieden bringen, dessen Grundlage die Gerechtigkeit ist.
Die Wahrheit wiederherzustellen, bedeutet in unserem Fall vor allem, die gewalttätigen Akte in all ihren Formen bei ihrem Namen zu nennen. Man muß den Völkermord an den tausenden Frauen, Männern und Kindern der Herero und Nama zwischen 1904 und 1908 beim Namen nennen, um eine Versöhnung zwischen den Nachkommen der Opfer und der Täter überhaupt zu ermöglichen. Die Rolle der Gedenktafel wird entscheidend, wenn man diesem Weg folgt. Sie symbolisiert heutzutage die historische Erinnerung, die die patriotischen und kriegerischen Erinnerungen ersetzt. Aus diesem Grund bildet sie ein pädagogisches Hilfsmittel unbestreitbarer Qualität.
Antoine Prost definiert im zweiten Band der „Orte des Erinnerns“ diese pädagogische Rolle von Denkmälern folgendermaßen:
„Es ist nötig, Erklärungen zu liefern für diejenigen, die hier heute herkommen und nur wissen, daß es eine denkwürdige Schlacht gegeben hat, aber währenddessen deren Entwicklung, zeitlichen Ablauf und Typographie völlig ignorieren.“ Tatsächlich ist die Geschichte der Völker übersät von traumatischen Ereignissen; diese Ereignisse wiederum sind wie die Stationen eines Kreuzweges bedeckt von Millionen von Toten, von der Mißachtung des Menschen und von einer unglaublichen anthropologischen Verarmung, die unser Leben heute zu strukturieren haben. Denkmäler sollen somit zu deren lebendigem Gedächtnis dienen. Sie müssen uns erlauben, ein allergisches Gedenken gegenüber den Verweigerungen der Menschlichkeit in Völkermorden, Versklavung, Kolonisierung, Imperialismus usw. zu entwickeln. Angesichts der Rechenschaft, die die in Ihrer Kirche angebrachte Gedenktafel vom Völkermord an tausenden von Herero und Nama zwischen 1904 und 1908 in Namibia gibt, können wir Ihnen nur die folgenden Zeilen von Primo Levi, der einem anderen, Ihnen viel näheren Völkermord entkommen ist, anführen, um eine Wiederherstellung der historischen Wahrheit durch eine Ergänzung der Gedenktafel zu fordern:
„Vergeßt nicht, daß es geschah, «N’oubliez pas que cela fut,
Nein, vergeßt es nicht: Non ne l’oubliez pas :
Bewahrt diese Worte in eurem Herzen Gardez ces mots dans votre coeur
Denkt daran, zu Hause, auf der Straße, Pensez – y chez vous dans la rue,
beim Schlafengehen, beim Aufstehen en vous couchant, en vous levant
Wiederholt es euren Kindern, Répétez- le à vos enfants,
oder wenn euer Haus einstürzt, ou que votre maison s’écroule
wenn die Krankheit euch niederdrückt, que la maladie vous accable,
wenn eure Kinder sich von euch abwenden“ que vos enfants se détournent de
vous »
[Primo Lévi, Si c’est un Homme, 1958, Paris Julliard, 1976]
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