Manfred Nowak: In Nigeria sind 80 bis 90% der Häftlinge in Untersuchungshaft

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Manfred Nowak ist UNO Sonderberichterstatter für Folter
„Ich kenne keinen einzigen Fall bzgl. einer Person, die nach Sharia Recht zum Tod verurteilt und dann tatsächlich auch hingerichtet wurde“

10.04.2008 | 14:04 | simon INOU

Diese Woche wählen 60 Millionen Wahlberechtigte NigerianerInnen neue Gouverneure sowie regionale Parlamente. Am Ende dieser Woche entscheiden sie über den Nachfolger von Präsident Olusegun Obasanjo, der nach zwei Amtszeiten nicht wieder antreten darf. Im März dieses Jahres besuchte Manfred Nowak (Bild), UNO Sonderberichterstatter für Folter nigerianische Gefängnisse. Was er vor Ort gesehen, gehört und gespürt hat erzählt er uns in einem Interview.

Herr Professor können Sie sich für unsere Leserinnen und Leser vorstellen?

Mein Name ist Manfred Nowak. Ich bin Professor für Internationalen Menschenrechtsschutz an der Universität Wien, Leiter des Ludwig Boltzmann Instituts für Menschenrechte, Wien und UNO Sonderberichterstatter über Folter.

Als UNO Sonderberichterstatter über Folter waren Sie vor kurzem in Nigeria. Aus welchem Grund?

Ich hatte eine offizielle Einladung der nigerianischen Regierung für eine einwöchige Mission. UNO Sonderberichterstatter können nur dann ein Land offiziell besuchen, wenn sie von der jeweiligen Regierung eingeladen werden. Missionen haben immer zwei Gründe: Erstens, fact-finding, d.h. soviel wie möglich über die Situation von Folter, Misshandlungen und Haftbedingungen in Nigeria zu dokumentieren und zweitens, eine Kooperation mit der Regierung zu entwickeln, um gemeinsam an der Verbesserung der Situation zu arbeiten

Was ist der Sinn einer fact finding mission und wo waren Sie genau in Nigeria?

Der Sinn einer fact-finding Mission ist, dass ich auf der einen Seite mit Regierungsverantwortlichen spreche. Ich habe  u.a. mit  Präsident Obasanjo, mit dem Justizminister,  dem so genannten Attorney General, sowie mit dem Innenminister gesprochen. Leider nicht mit der Außenministerin, weil sie gerade weg war, aber mit ihrem Stellvertreter, weiters mit dem Police Inspector General, sowie mit dem Controller General of the prison system Des Weiteren habe ich mich auch mit der Leiterin der nationalen Human Rights Commission sowie mit dem Leiter der Economic and Financial Crime Commission, die das für Nigeria so wichtige Thema der Korruption untersucht, getroffen. Natürlich habe ich mich auch mit nicht-staatlichen Organisationen (NGOs) sowie mit Opfern von Folter oder mit Personen, die behaupten Opfer zu sein getroffen.

„Die Armen haben oft keinen Zugang zu Anwälten, deswegen sitzen sie sehr lange in Untersuchungshaft.“

Ein ganz wesentlicher  Bereich meiner Arbeit ist der Besuch von jenen Orten an denen Menschen eingesperrt sind. Als UNO Sonderberichterstatter habe ich nämlich das Recht  all diese Orte unangekündigt zu besuchen und mit den Inhaftierten vertrauliche Interviews zu führen. Konkret habe ich  das  Kuje Gefängnis in der Nähe von Abuja besucht, dann die Gefängnisse in Port Harcourt und Kaduna, einzelne Polizei Dienstellen und vor allem die Criminal Investigation Police, also die staatlichen Zentren der Kriminalpolizei in Abuja, Lagos, Port Harcourt und Kaduna. In Abuja und Kaduna habe ich  dreimal versucht die Einrichtungen der Staatlichen Sicherheitsbehörde, des so genannten State Security Service, zu besuchen. Dies war bedauerlicherweise unmöglich obwohl ich von der Regierung eingeladen wurde. Mir wurde der Eintritt verwehrt, zweimal im Hauptquartier in Abuja und einmal in Kaduna.

Was haben Sie in den Gefängnissen, wo Sie waren, gesehen?

Was die Gefängnisse angeht ist das Hauptproblem, dass sie überfüllt sind. Von den Gefängnissen die ich besucht habe, war Port Harcourt sicherlich das schlechteste, Kaduna das beste  in Bezug auf den Grad der Überfüllung. Die Gefängnisse sind nicht überfüllt weil so viele Leute  in Nigeria verurteilt sind und ihre Haftstrafe absitzen, sondern weil der Großteil (80 bis 90%) der Häftlinge in Untersuchungshaft ist. Dies ist eines der strukturellen Probleme in Nigeria, das  auf eine nicht entsprechend funktionierende Justiz zurückzuführen ist. Verdächtigte müssen oft über viele Jahr auch wegen kleiner Delikte in Untersuchungshaft sitzen. Dieses Thema habe ich mit den höchsten Repräsentanten des Staates angesprochen und es gibt hier von der Regierungsseite die Bereitschaft, das Problem zu lösen. Zum Beispiel haben wir derzeit in ganz Nigeria zwischen 40 000 und 45 000 Häftlinge. Diese Zahl ist bezogen auf die Bevölkerungsgröße im weltweiten Vergleich nicht sehr hoch. Auf die 140 Mio. Einwohner kommen 30 Häftlinge pro hunderttausend Einwohner, in den USA sind  es 700 und in Russland 500. Relativ gesehen ist die Zahl der Häftlinge in Nigeria also gering, obwohl die Kriminalitätsrate sehr hoch ist.  Es gibt aber eben viel Leute, die in Untersuchungshaft sitzen. Hier gibt es Überlegungen circa die Hälfte (20 000 bis 25 000 ) freizulassen.

Wie erklären Sie dieses Phänomen?

Angenommen Sie werden wegen Diebstahls in Untersuchungshaft genommen. Die maximale Strafe, die Sie meiner Meinung nach bekommen, sind drei Jahre. Aber dann sitzen Sie schon fünf Jahre in Untersuchungshaft. Diese Verdächtigten müssten längst freigelassen werden, selbst wenn sie schuldig wären.. Es kann aber auch sein, dass Sie unschuldig sind und so oder so auf keinen Fall drei Jahre inhaftiert sein sollten. Solche Fällen gibt es sehr viele. Es gibt jetzt einen Plan, einen Großteil dieser Häftlinge freizulassen was das Gefängnissystem sehr entlasten würde.

Ähnliches gilt für die Todesstrafe, die es nach wie vor in Nigeria gibt. Aber viele derjenigen, die jetzt in den Todeszellen sitzen, sind noch unter der Militärdiktatur Abachas, zum Teil sogar noch  davor verurteilt worden. Die Person, die ich gesehen habe und am längsten schon inhaftiert ist, sitzt bereits seit 23 Jahren . Das heißt, dass die Verurteilung in einem viel früheren Regime gewesen ist. Positiv gesehen, hängt dies damit zusammen, dass Präsident Obasanjo, der 1999 an die Macht gekommen ist, doch sehr viel für die Demokratisierung Nigerias  getan und viele Reformen eingeleitet hat. President Obasanjo hat immer klar gemacht, dass er gegen die Todesstrafe ist, was er mir auch in einem persönlichen Gespräch bestätigt hat. Deswegen gibt es in den letzten Jahren nur sehr wenige Menschen, die exekutiert worden sind.

Wie heißt dass konkret?

Konkret heißt es, dass seit 2002 acht Personen hingerichtet wurden. Die letzte Exekution hat im Mai 2006 in Kaduna stattgefunden. Diese Exekutionen sind in die Kompetenzen der Gouverneure der jeweiligen Bundesstaaten gefallen. Im letzten Fall war es ein nördlicher Bundesstaat, wo die meisten Inhaftierten wegen bewaffnetem Raubüberfällen sitzen. Offiziell gibt es zwar kein Moratorium, aber die Todesstrafe wird sehr selten verhängt. Deswegen gibt es an die 700 Menschen, die oft seit vielen Jahren in der Todeszelle sitzen und im Prinzip jeder Zeit hingerichtet werden könnten.

Das ist  eine Situation, die auch nach menschenrechtlichen Gesichtspunkten untragbar ist. Ich habe diesbezüglich auch mit dem jetzigen Präsidenten gesprochen, der allerdings sein Amt demnächst übergibt, aber doch  Reformen  im Justizbereich eingeleitet hat, um zum Tode Verurteilte entweder freizulassen oder zumindest ihre Todesstrafe in eine längere Freiheitsstrafe umzuwandeln . Ein weiterer kritischer Punkt ist die Anwendung von körperlicher Bestrafung, die im normalen Strafrecht und natürlich auch in der Sharia vorgesehen ist und u. a. in Schulen aber auch Gefängnissen angewandt wird. Besonders problematisch ist dies in Bezug auf die 12 nördlichen Bundesstaaten, in denen Sharia eingeführt wurde. Dort gibt es Inhaftierte, die zum Tode durch Steinigen verurteilt sind.

Es gibt auch Personen die wegen Diebstahls zu Amputationen verurteilt wurden. Allerdings ist auch hier die Exekution dieser Urteile nicht sehr häufig. Es gibt Menschen, denen die Hand abgehackt wurde, aber es sind nicht sehr vielen Fälle. Ich kenne keinen einzigen Fall bzgl. einer Person, die nach Sharia Recht zum Tod verurteilt und dann tatsächlich auch hingerichtet wurde. Jene, die unter dem Sharia Recht verurteilt wurden, haben das Recht, sich an ein ordentliches, ziviles Gericht zu wenden.

Angesichts Nigerias Vielzahl von unterschiedlichen Volksgruppen und Religionen ist Sharia und die Rolle des Islams im Rechtssystem ein politisch brisantes Thema. Gleichzeitig ist es in seiner tatsächlichen Dimension weit weniger groß als es in den Medien oft dargestellt wird. Sicherlich ist die Anwendung von diversen Körperstrafen in jedem Einzelfall problematisch, doch werden solche Strafen nicht in dem Ausmaß exekutiert wie oft behauptet wird. Auch hier gibt es deutliche Tendenzen, den Einfluss der Sharia zurückzudrängen.

Sind Familienbesuche in den Gefängnissen gestattet? Wie schaut die Gesundheit der Gefangenen aus? Haben sie Zugang zur gesundheitlichen Versorgung?

Es gibt sehr viele Probleme in den nigerianischen Gefängnissen. Aber meine Hauptsorge ist neben der Überfüllung die schlechte Versorgung mit  Nahrung und  medizinischen Leistungen. Natürlich auch die Korruption, d.h. die Armen haben es viel schwerer als die Reichen. Die Armen haben oft keinen Zugang zu Anwälten, deswegen sitzen sie sehr lange in Untersuchungshaft. Wenn Sie kein Geld haben, kann es sehr leicht sein, dass sie sehr lange in Untersuchungshaft sitzen müssen, und nicht früher entlassen werden. Das sind die Probleme. Es gibt keinerlei Infrastruktur.

Ganz anders ist die Situation in der Polizei. Eine meiner Schlussfolgerungen war, dass bei der Kriminalpolizei (Criminal Investigation Police) Folter sehr routinemäßig angewendet wird. Das reicht von Schlägen bis hin zu schweren Formen der Folter wie der „Chicken Position“, d.h. die Arme und Händen des Gefangenen werden hinter dem Rücken zusammengefesselt. Das Opfer wird anschließend an einem Rohr, das zwischen Beinen und Rücken eingefädelt wird mit dem Kopf nach unten aufgehängt. Diese Position ist alleine schon sehr schmerzhaft, zusätzlich werden die Opfer aber noch geschlagen.

Was war für Sie die erschütternste Begegnung?

Meine erschütternste Begegnung war bei der Kriminalpolizei in Lagos. Obwohl ich das Recht habe, jedes Gefängnis sowie jede Polizeidienstelle wo immer Leute verhört oder ihrer persönlichen Freiheit beraubt sind zu besuchen, war es nur schwer möglich diese Einrichtung zu inspizieren. Die Menschen dort liegen am Beton- oder am Lehmboden ohne irgendeine Matratze, Bett oder Decke. Wirklich gar nichts. Zum Teil in wirklich inhumanen Situationen, weil sehr oft sehr viele Menschen  übereinander schlafen müssen. Die Inhaftierten klagen über mangelndes Essen und Trinken und sind medizinisch nur schlecht versorgt. Das war das Erste. Das Zweite war, dass wir Informationen erhalten hatten, die darauf hinwiesen, dass es irgendwo in der genannten Polizeistation einen Folterraum gibt. In den bin ich zuerst nicht hinein gekommen, der Hauptkommissar hat alle möglichen Ausflüchte und Ablenkungen probiert. Nach einem langen

„Ich kenne keinen einzigen Fall bzgl. einer Person, die nach Sharia Recht zum Tod verurteilt und dann tatsächlich auch hingerichtet wurde“

Hin und Her konnte ich mich schlussendlich doch noch durchgesetzt und fand einem kleinen, zum Teil nicht überdachten Raum wo ca. 125 Menschen zusammengepfercht und schon mehrere Wochen festgehalten waren. Darunter waren einige Jugendliche und Frauen. Der jüngste den ich gefunden habe, war 12 Jahre alt. Fast alle der dort festgehaltenen berichteten davon, dass sie selbst gefoltert  wurden und zeigten mir auf welche Art und Weise sie gefoltert wurden.

Besonders schlimm war die Situation eines Gefangenen, dem in den Fuß geschossen wurde. Diese Verletzung kann im Zuge der Festnahme zugefügt worden sein.  Anderseits haben wir viele Berichte über nachträglich, also in Gefangenschaft, zugefügte Schussverletzungen erhalten. Der uns begleitende Gerichtsmediziner, ein internationaler Experte für durch Folter zugefügte Wunden, fand in einigen Fällen deutliche Spuren von Fußverletzungen durch angesetzte bzw. aus kurzer Distanz abgefeuerten Schüssen. Diese Methode ist Folter.

Das besonders Schreckliche ist, dass daran anschließend keinerlei medizinische Versorgung gewährleistet wird. Genau einen solchen Fall fand ich in dieser Polizeistation in Lagos. Die Person war vor ca. 2 Monaten angeschossen worden und lag seit dem ohne ärztliche Versorgung in dem überfüllten Raum. Das Bein war bereits mumifiziert. Laut unserem Arzt würde diese Person eine sofortige Operation benötigen, inklusive Amputation des Beines, um sein Leben zu retten. In dem gleichen Raum fanden wir später noch eine zweite Person, mit einer ähnlich schweren Verletzung.

Das sind die Fälle für die ich dann direkt beim Inspector-General der Polizei und auch am Schluss der Mission bei der Regierung interveniert habe. Ich habe auch Fotos gemacht und ihnen die gezeigt und hoffe, dass meine Intervention diesen Menschen das Leben retten wird. In der gleichen Polizeistation wurde mir wiederholt gesagt, dass an dem Tag, bevor ich da war, jemand gestorben sei. Alles in allem heißt das, dass die Zustände äußerst menschenunwürdig sind. Hier bedarf es wirklicher struktureller Reformen. Insbesondere einfach auch, weil diejenigen, die foltern, sich so sicher sind, dass sie keiner wie auch immer geachteten Kontrolle unterliegen. Es herrscht völlige Straflosigkeit und es geht so weit, dass die Leute vor den Augen der anderen foltern und sich dabei darauf verlassen können, dass in diesen Raum niemand hinein kommt.

 

Und wenn ich nicht wirklich massiven  Druck gemacht hätte und direkt von dort mit dem Inspector General der Polizei in Abuja telefoniert und entsprechende Anweisungen (voller Zugang, ungestörte, vertrauliche Interviews) eingefordert hätte, hätten wir vermutlich nie Zugang zu diesem Raum bekommen. Das war ein langer Kampf.

Welchen persönlichen Schutz haben Sie in so einer Situation?

Natürlich habe ich immer einen Bodyguard mit. Nigeria ist ein relativ unsicheres Land  und die Kriminalität ist hoch. Im Konvoi bin ich nur in Lagos gefahren. Ganz konkret:  in einem  Auto der UN, mit einem UNO Bodyguard und einem MOPOL (Mobile Police), d.h. ein bewaffneter nigerianischer Polizeibeamte, der für die UNO zur Verfügung gestellt wird.  Hier habe ich einen vollen Sicherheitsschutz durch die Vereinten Nationen in Übereinstimmung mit der nigerianischen Regierung. Allerdings  habe ich es immer abgelehnt von einem nigerianischen Polizeiauto begleitet zu werden, weil die Besuche sonst nicht unangekündigt wären.

Grundsätzlich darf ich sagen, dass ich in meiner Funktion als UNO Sonderberichterstatter nie schlechte Erfahrung mit Häftlingen während meiner Besuches gemacht habe. Die Leute sind froh, dass einmal jemand dort hin kommt wo sie festgehalten werden und unabhängig ihre Situation untersucht.

Da die Gespräche vertraulich sind, wollen die Leute nahezu immer mit mir sprechen. In Nigeria waren sie diesbezüglich überwiegend sehr offen. Da spricht viel für die Offenheit des demokratischen Systems des Landes. Viele haben der Veröffentlichung ihrer Namen in unserem Bericht zugestimmt. Natürlich müssten wir auch ein Nein in solchen Fällen akzeptieren.  Aber wie gesagt, der überwiegende Teil ist froh, mir ihre Geschichte erzählen zu können, damit sich die Situation verbessert. Eigentlich habe ich keine Angst um meine eigene Sicherheit, sondern mehr um die Sicherheit derjenigen, mit denen ich spreche.

Wohin geht die nächste Mission?

Anfang April werde ich nach Togo fliegen. Gegenwärtig laufen die Vorbereitungen. Wir haben auch bzgl. Simbabwe angefragt, aber ich glaube nicht, dass ich so schnell eine Antwort bekommen werde.

Danke für das Interview.

Ich danke Ihnen.

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MANFRED NOWAK´S MISSION REPORT (pdf)


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