Türkische Senioren: „Wollen wortlos verstanden werden“

10.11.2011 | 8:30 | Silvia Herburger

Heute findet in Lustenau, in Vorarlberg die 8. Rheintaler Alterstagung statt. Diesmal unter dem Titel „Migration und Alter – Gemeinsam Zukunft gestalten“. Die Tagung stellt die Frage in den Raum, wie jene Menschen, die als ‚Gastarbeiter‘ nach Österreich gekommen sind, nun ihr Alter verbringen wollen. Die große Relevanz des Themas zeigt sich mitunter daran, dass die Tagung schon seit mehreren Tagen ausgebucht ist.

Die Pflegewissenschaftlerin Nevin Altintop hat sich im Rahmen ihrer Diplomarbeit und Dissertation mit dem Thema Alter und Migration auseinandergesetzt. Mit M-MEDIA sprach sie über die Bedürfnisse türkischer Senioren und warum sich österreichische Altenheime für kultursensible Pflege öffnen sollten. Silvia Herbuger stellte die Fragen.

M-MEDIA: Frau Altintop, Sie haben viel im Bereich der kultursensiblen Pflege geforscht. Können Sie kurz erklären, was darunter zu verstehen ist?

Nevin Altintop: Das erste transkulturelle Pflegemodell wurde von einer amerikanischen Anthropologin, Madeleine Leininger, ab Ende der 1950er bis in die 1980er Jahre entwickelt. Heute gibt es eine ganze Reihe von Ansätzen, die “transkulturell”, “interkulturell”, “multikulturell”, “kultursensibel” oder “kulturspezifisch” heißen. Allen Modellen gemeinsam ist die Annahme einer wesentlichen Verbindung zwischen “Kultur” und “Gesundheit”. Das bedeutet: Es gibt einen Einfluss der Kultur auf die Gesundheit eines Menschen, und jeder Mensch hat das Bedürfnis nach seinem sozio-kulturellen Hintergrund gepflegt zu werden, weil soziale und kulturelle Faktoren den Heilungsprozess beeinflussen.

Wenn Sie die Situation in Wien mit jener in deutschen Städten vergleichen, wo gibt es in Wien noch Defizite und wo besteht Aufholbedarf?

In Deutschland wurde im Jahr 2000 der Arbeitskreis “Charta für eine kultursensible Altenpflege” gebildet, in dem die Verbände der freien Wohlfahrtspflege (Arbeiterwohlfahrt, Diakonie, Caritas, Deutsches Rotes Kreuz, usw.) eine Orientierung zur interkulturellen Öffnung der Altenpflege erarbeitet haben. Ihr Ergebnis ist das “Memorandum für eine kultursensible Altenpflege”. In Österreich gibt es dazu nichts Vergleichbares und wahrscheinlich muss sich grundsätzlich in den Köpfen aller Beteiligten etwas ändern. Kultursensible Altenpflege darf nicht als Last sondern muss als Chance und Herausforderung gesehen werden. Das muss auch stärker öffentlich kommuniziert werden. In Deutschland wird darüber öffentlich mehr diskutiert. Meine neuesten Recherchen in Berlin ergaben beispielsweise, dass kultursensible Altenpflege als Ausdruck für Gerechtigkeit oder als Qualitätsmerkmal empfunden werden kann.

In Wien gibt es mit diesem Thema noch oft Berührungsängste. Sogar im Bereich der Forschung: am Institut für Pflegewissenschaft wurde mein Diplomarbeitsthema als “heikel” empfunden. Bedürfnisse von Menschen sind keineswegs heikel, nur weil es sich um MigrantInnen handelt. Aber auch in anderen Bereichen findet man eine Ausblendung des Themas bis hin zur Ablehnung. Von MigrantInnen wird gefordert, dass sie sich “anpassen”. Woran? Besteht eine Anpassung darin, dass alle Schweineschnitzel essen und Bier trinken? Und was machen Vegetarier? Man erkennt natürlich gleich, dass bei der Forderung nach Anpassung immer mit Klischees gearbeitet wird.

Ich kenne in Wien keinen privaten Anbieter kultursensibler Pflege für türkischstämmige MigrantInnen, wie es sie beispielsweise in Berlin gibt. Ein weiterer Unterschied zu Deutschland ist, dass die MigrantInnen dort ihre Bedürfnisse und Rechte stärker einfordern und den Alltag aktiver mitgestalten, auch in der Altenpflege.

Sie haben sich in ihrer Diplomarbeit und auch jetzt für ihre Dissertation mit der Lage von älteren Türken beschäftigt, worin bestehen die besonderen Bedürfnisse dieser Gruppe?

Viele sind vielleicht der Meinung, dass türkischstämmige MigrantInnen generell zu Hause in der Familie gepflegt werden wollen. Natürlich möchten sie das, aber wer möchte das nicht? Auch Österreicher wollen, so lange es geht, zu Hause gepflegt werden und in ihren eigenen vier Wänden alt werden. Leider lässt sich das nicht immer verwirklichen,  wie man sich das vorstellt. Ein Unterschied ist jedoch, dass MigrantInnen die bestehenden Altenpflegeangebote (Altenheime, Tageskliniken, Heimhilfen) nicht so annehmen wie Österreicher. Das bedeutet aber nicht, dass kein Bedarf besteht. Gerade die MigrantInnen der ersten Generation würden  Altenpflegeangebote annehmen. Das darf jedoch nicht einen Verzicht auf ihre Bedürfnisse bedeuten. Dies beinhaltet muttersprachliche Unterhaltung und Betreuung, die Beibehaltung von  Essensgewohnheiten und den Wunsch nach gleichgeschlechtlicher Körper- und Intimpflege. Eigentlich sind das keine unerfüllbaren Wünsche, sondern Rechte, die jedem Menschen zustehen.

Warum ist es für ältere Türken nur schwer möglich, sich in einem bestehenden Alters- bzw. Pflegeheim betreuen zu lassen? Welche Defizite gibt es von Seiten der Pflegeeinrichtungen?

Die Kommunikation ist für türkischstämmige MigrantInnen sehr wichtig. Sie sagen, “die Seele eines Menschen darf nicht austrocknen”, das bedeutet, dass sie verstanden werden wollen, dass die zwischenmenschlichen Kontakte für sie lebenswichtig sind. Meine Interviewpartner äußerten ihren Wunsch, sich im Alter nicht mehr erklären zu müssen, warum sie kein Schweinefleisch essen, warum sie ein Kopftuch tragen, warum sie beten. Sie wollen im Alter wortlos verstanden werden. Das bedeutet jedoch, dass das Personal eines Alten- bzw. Pflegeheimes auf deren Kultur sensibilisiert und zweisprachig sein sollte.

Fallen auch in türkischen Familien die Strukturen, um zu Hause gepflegt zu werden, immer mehr weg?

Auch türkische Familien sind einem Wandel unterworfen. Die meisten versuchen die Pflege zu Hause zu organisieren, bis es nicht mehr geht. Oft sind auch die Töchter und Schwiegertöchter mit der Pflege der Eltern/Schwiegereltern oder älteren Angehörigen konfrontiert. Stellen Sie sich eine Frau von knapp 30 Jahren vor, die drei Kinder, den Haushalt und eine bettlägerige Schwiegermutter zu pflegen hat. Ich habe diesen Fall während meiner Interviews kennengelernt. Es ist nicht verwunderlich, wenn diese Frau sagt, dass sie “ihr eigenes Leben schon längst aufgegeben hat” und sie nur noch “funktioniert”. Man kann auch beobachten, dass bei den Jüngeren das Pflichtgefühl aber auch eine Scham gegenüber der Gesellschaft eine große Rolle spielt. Natürlich wollen sie gute Kinder sein und für die Pflege ihrer Eltern sorgen. Gäbe es kultursensible Angebote (z.B. eine türkischsprechende Heimpflegekraft), würden diese auch angenommen werden. Aber auch die erste Generation selbst ist sich bewusst, dass die Kinder sie eventuell im Alter nicht mehr pflegen können oder sie wollen ihnen keine Last sein.

Gibt es in der Türkei Altenheime oder ist es hier noch Normalität, dass die Alten zu Hause betreut werden?

Nach meiner Kenntnis werden ältere Menschen, besonders im ländlichen Raum vorwiegend zu Hause gepflegt. Informelle Pflegetätigkeiten werden aber nicht nur von Familienangehörigen, sondern auch von Nachbarn oder Freunden übernommen. Sie bringen Essen vorbei oder helfen bei Einkäufen. In Großstädten in der Türkei wächst allerdings die Anzahl der Alten- und Pflegeeinrichtungen. In Izmir gibt es sogar ein Altenheim für zurückgekehrte türkischstämmige MigrantInnen, vorwiegend aus Deutschland. Es gibt auch neuere Projekte, die ein Pflegeservice für die ärmere Bevölkerungsschicht anbieten.

Gibt es in Wien bereits kultursensible Angebote in diese Richtung?

Ich kenne Beispiele aus Deutschland, z.B.  in Berlin, Hamburg und Frankfurt, die gezeigt haben, dass durch das Engagement von MigrantInnen selbst kultursensible Angebote für die Altenpflege realisiert wurden, die auch sehr gut angenommen werden. In Wien gibt es nach meiner Kenntnis nur eine von der israelitischen Kultusgemeinde organisierte Altenpflege, die die Bedürfnisse der Personen mit jüdischen Wurzeln abdeckt. Vergleichbares für Muslime gibt es nicht. Es gibt lediglich einen Seelsorgedienst.

Wie könnten Betreiber von Alten- und Pflegeheimen dazu beigetragen, bereits bestehende Angebote für Menschen mit türkischem Hintergrund, attraktiver oder bekannter zu machen bzw. Hemmschwellen herabzusetzen?

Erstens, um von offizieller Seite eine Klientel mit Migrationshintergrund zu erreichen, müssen diese Menschen zunächst als Klientel auch begriffen werden. Das ist nicht überall der Fall. Zweitens geht es auch um die Bedeutung des Menschen, der seine Wohnung aufgibt und in ein Altenheim übersiedelt: Bedeutet er nur Geld? Man sieht immer wieder, dass Personen mit Migrationshintergrund bestehende Angebote in der Altenpflege nicht annehmen, versteht dies aber viel zu selten als Kritik. Die Frage ist: Welche Pflege kann ich als Altenheimbetreiber anbieten? Letztendlich wollen alle Menschen individuell gepflegt werden. Allgemein würde ich sagen, um ein bestimmtes Klientel anzusprechen, muss man es erreichen. Es müssen Kontakte geknüpft werden. Bei türkischstämmigen MigrantInnen können das Moscheen und Vereine sein. Es ist immer hilfreich, auf MigrantInnen zuzugehen, Informationsbroschüren zwei- oder mehrsprachig auszuhändigen, Pflegekräfte mit Migrationshintergrund oder auch Pflegekräfte, die mehrsprachig sind, zu fördern.


ein Kommentar

  • Altenpflege

    unsere Gesellschaft besteht doch aus den verschiedensten internationalen Komponenten, da sollte es doch möglich sein für ältere Bürger die einen Migrationshintergrund haben ein geeignetes Pflegeprogramm zu gewährleisten.Ich denke es ist ja auch für die Unternehmen eine große Möglichkeit eine Marktlücke zu füllen. Geschrieben um 20. März 2012 um 14:18 Uhr Antworten

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