Tschetschenische Flüchtlinge: Warum sinkt die Anerkennung?

28.03.2011 | 14:50 | REDAKTION

In den vergangenen Jahren sind die Chancen für AsylwerberInnen aus Tschetschenien in Österreich Asyl zu bekommen, statistisch wesentlich schlechter geworden. Wir wollten ergründen warum und haben dafür einen eingehenden Blick auf die Asylverfahren tschetschenischer Flüchtlinge geworfen.

von Anny Knapp*

Über 34.000 Asylanträge wurden von Staatsangehörigen der Russischen Föderation in den vergangenen 12 Jahren in Österreich gestellt. Laut Schlepperbericht 2008 sind 85 Prozent der AsylwerberInnen aus der Russischen Föderation TschetschenInnen. Im Gegensatz zu vielen anderen Herkunftsländern ist das Verhältnis zwischen Männern und Frauen etwa gleich, auffällig ist weiters der mit 56 Prozent hohe Anteil an Minderjährigen.

Während im Zeitraum 2003 bis 2007 die Chance für russische Staatsangehörige, Asyl zu erhalten, zwischen 77 und 94 Prozent lag, ist sie danach drastisch geringer geworden, 2008 sank der Anteil der positiven Asylentscheidungen auf 46,9 Prozent, 2009 sogar auf nur 33,8 Prozent, was auch den aktuellen Trend kennzeichnet. UNHCR zeigte sich über den allgemeinen Rückgang der Anerkennungsrate schon 2008 besorgt und hob hervor: „Besonders stark trifft die stark gesunkene Asylzuerkennung Männer, Frauen und Kinder aus der Russischen Föderation, zumeist Tschetschenen“ (Asylbarometer Jänner 2009 UNHCR 20.02.2009). Bis 2007 wurden negative Asylentscheidungen noch meistens durch Gewährung subsidiären Schutzes kompensiert, eine Abschiebung in die Russische Föderation war damals kein Thema. Danach wurde aber zunehmend auch im Fall der Abschiebung kein Risiko mehr für die abgelehnten AsylwerberInnen gesehen, 2.731 negativen Asylentscheidungen stehen nur mehr 312 positive Non-Refoulement Entscheidungen im Jahr 2009 gegenüber, ähnlich dürften auch die Zahlen für 2010 ausfallen. Bis November 2010 wurde in 595 Fällen kein Schutz vor Abschiebung erteilt. Die sinkenden Chancen im Asylverfahren spiegeln sich auch in der seit 2008 steigenden Anzahl von Tschetschenen wider, die in die Russische Föderation zurückkehren. Während IOM im Rahmen seines allgemeinen Rückkehrprogramms 2007 113 Personen bei der Rückkehr in die Russische Föderation unterstützte, waren es 2008 bereits 417 (davon 75 Prozent nach Tschetschenien) und 2009 930 Personen.

Ursache Dublin II

Die Einreise tschetschenischer Flüchtlinge in den EU-Raum erfolgt meist über Polen, viele, die in Österreich um Schutz ansuchen, haben auch schon in Polen einen Asylantrag gestellt, weil sie sonst als illegale Migrantinnen eine Rückführung nach Russland fürchten müssten. Daher ist gemäß der EU-Verordung über die Zuständigkeit der Mitgliedsstaaten für die Prüfung eines Asylantrags (Dublin-II-Verordnung) Polen als Ersteinreiseland zuständig. Hier, in der zum Teil strikteren Anwendung der Dublin-Bestimmungen, liegt auch eine der Ursachen für die sinkende Anerkennungsquote tschetschenischer Flüchtlinge.

Bis 2006 waren in Österreich traumatisierte Flüchtlinge und Opfer von Folter von der Überstellung in das Ersteinreiseland ausgenommen, eine Traumatisierung konnte bei fast allen tschetschenischen Flüchtlingen festgestellt werden. Die Abschaffung dieser Ausnahmebestimmung für besonders schutzbedürftige traumatisierte Personen führte automatisch zu einem Anstieg negativer Asylentscheidungen.[1]

Im Jahr 2009 waren laut Eurodac-Bericht 1.833 AsylwerberInnen bereits in Polen, das fast nur Asylsuchende aus Russland hat, registriert worden, d.h. dass Österreich sich für etwa jeden Zweiten der 3.559 AsylwerberInnen aus der Russischen Föderation für nicht zuständig erachtet hat.

Gesunkenes Gefahrenpotential?

Das Asylbarometer des UNHCR weist auch auf eine zweite Ursache für die sinkenden Anerkennungsquoten hin: Die Entscheidungspraxis des seit Mitte 2008 eingeführten Asylgerichtshofes. Schließlich wirken sich die Veränderungen in Russland und Tschetschenien auf die Einschätzung der Gefährdungslage und die Frage der Schutzbedürftigkeit aus. Geprüft wird im Asylverfahren nicht, welche Gefahr der Flüchtling zum Zeitpunkt der Flucht gedroht hat, sondern wie wahrscheinlich Verfolgung und Menschenrechtsverletzung im Falle der Rückkehr sind. Bei Tschetschenen, die während des Krieges geflüchtet sind, war die Voraussetzung für die Flüchtlingsanerkennung sehr hoch, während nun, nachdem im April 2009 Russland offiziell den 2. Tschetschenienkrieg für beendet erklärt und das Kriegsrecht aufgehoben hat, eine Gefährdung nur noch bei bestimmten Konstellationen angenommen wird.

UNHCR[2] sieht derzeit insbesondere (ehemalige) Rebellen und deren Verwandte, politische Gegner Kadyrows, Personen, die eine offizielle Funktion in der Verwaltung Maschadows hatten, Menschenrechtsaktivisten und Personen, die Beschwerden bei regionalen und internationalen Menschenrechtseinrichtungen eingebracht haben, als besonders gefährdet an.

Laut Bericht des Auswärtiges Amt der Bundesrepublik Deutschland über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation ist auch bei Personen, die im Verdacht stehen, einen fundamentalistischen Islam zu propagieren, damit zu rechnen, dass sie die Aufmerksamkeit russischer Behörden auf sich ziehen.

Laut UNHCR geraten vor allem Rückkehrende aus dem Ausland bei ihrer Wiedereinreise an der Grenze automatisch ins Visier des Geheimdienstes FSB. Sie werden oft verdächtigt, während ihrer Abwesenheit die Rebellen unterstützt oder im Ausland ein Vermögen angehäuft zu haben, wodurch sie zu Opfern von Erpressung werden können.

Eine neue besorgniserregende Entwicklung sieht der Berichterstatter der Parlamentarischen Versammlung des Europarats in der Geiselnahme von Familienangehörigen mutmaßlicher Rebellen, um sie zur Aufgabe zu zwingen.

Konkrete Entscheidungen

Angesichts der rund 1000 positiven Asylentscheidungen und rund 900 Non-refoulment-Entscheidungen ist es schwierig, über die Entscheidungspraxis der Asylbehörden eine Einschätzung abzugeben, eine systematische Untersuchung gibt es unseres Wissens nicht. Anhand einiger aktueller Entscheidungen kann jedoch ein erster Einblick vermittelt werden.

Folgt man den Ausführungen des Asylgerichtshofs, treten im erstinstanzlichen Verfahren häufig Fehler auf, die eine rasche Feststellung der Schutzbedürftigkeit verhindern. Der Asylgerichtshof hält beispielsweise fest, „dass das Regime von Kadyrow eindeutig diktatorische Züge hat, dass weiterhin mannigfaltige Bedrohungsszenarien in Tschetschenien bestehen und (auch schwere) Menschenrechtsverletzungen geschehen können. Diese Szenarien rechtfertigen in vielen Fällen die Gewährung von Asyl, was auch der ständigen Praxis der entscheidenden Richter des Asylgerichtshofes entspricht.“

In diesem Zusammenhang wurde auch wiederholt in diesen Entscheidungen ausgeführt, dass das Bundesasylamt diese „mannigfaltigen Bedrohungsszenarien“ in der derzeitigen Situation oftmals nicht hinreichend würdigt und dass die diesbezüglichen Ausführungen des Bundesasylamtes in vielen (negativen) Bescheiden betreffend tschetschenischer AntragstellerInnen zu oberflächlich bleiben, daher „verfehlt sind und neuerlichen Ermittlungsaufwand auslösen“ (D3 313080-2/2008 vom 6.11.2010)

Konkrete Mängel im Verfahren vor dem Bundesasylamt werden auch in anderen Senatsentscheidungen erläutert, die zu einer erstinstanzlichen Ablehnung führten, weil der Asylwerber durch vage und oberflächliche Angaben den Eindruck erweckt habe, dass er zum größten Teil einen Sachverhalt vorgebracht habe, den er nur aus Erzählungen kenne, jedoch nicht selbst erlebt habe. Der Asylgerichtshof sieht eine mögliche Ursache darin, dass die Einvernahme in russischer Sprache erfolgte, die der Asylwerber nur zu 70 % verstehe: „Unter Umständen ist es dem Beschwerdeführer somit gar nicht möglich gewesen, seine Fluchtgründe detaillierter und anschaulicher geltend zu machen, da ihm dafür das Vokabular in der russischen Sprache gefehlt hat.“

Bundesasylamt vage und inkonsequent

Dem Bundesasylamt wird weiters vorgeworfen, dem Asylwerber keine Gelegenheit geboten zu haben, durch eingehende und detaillierte Befragung sein Vorbringen zu konkretisieren: „Es fehlt der gesamten Einvernahme an der notwendigen Tiefe bzw. hat das einvernehmende Organ des Bundesasylamtes es mehrmals verabsäumt dem Beschwerdeführer gezielte Fragen zu seinen Anhaltungen, zum Hergang der Mitnahmen, zu den erlittenen Folterungen und den dort ausgesetzten Verhören zu stellen“. Als weiteren Verfahrensmangel rügt der Asylgerichtshof „etwaig aufgetretene Widersprüche und Abweichungen in seinen Angaben zu jenen seiner Ehefrau (wurden dem Asylwerber) auch in keiner Weise vorgehalten und diesem dadurch die Möglichkeit einer Rechtfertigung oder Aufklärung geboten.“ Problem Nummer vier ist die unterlassene Ladung der Anwältin zur Einvernahme, wodurch der Asylwerber „massiv in seinen Rechten beschnitten“ wurde.

Die „nahezu textbausteinartigen Ausführungen“ der Begründung des ablehnenden Bescheides mit „lediglich in zwei Absätzen“ ist für den Asylsenat in „keiner Weise nachvollziehbar“. Schließlich vermisst der Asylsenat eine ordnungsgemäße Auseinandersetzung mit der posttraumatischen Belastungsstörung des Asylwerbers, da es „durchaus möglich ist, dass es dem Beschwerdeführer aufgrund dieser psychischen Erkrankung nicht möglich gewesen ist, detailliert über seine traumatisierenden Ereignisse zu sprechen“ (D13 408091-1/2009 vom 10.09.2010) Im Verfahren der Gattin kommt noch ein anderer Mangel zu Tage: die fehlende Auseinandersetzung mit Informationen zum Herkunftsland. Für den Asylgerichtshof ist nicht ermittelt und somit nicht auszuschließen, dass der offensichtlich schlechte gesundheitliche Zustands der Gattin, durch den die Überstellung nach Polen nicht möglich gewesen ist, auch relevant für die Gewährung von subsidiärem Schutz sein könnte. (D13 408090-1/2009 vom 10.09.2010)

Kritisiert wurde vom Asylgerichtshof an einer Entscheidung des Bundesasylamts das Fehlen einer näheren Begründung, warum die erste Instanz die Angaben für nicht verifizierbar, vage, nicht plausibel nachvollziehbar und allgemein gehalten ansah. Der Senat hebt auch die Inkonsequenz hervor, dass aufgrund eines Gutachtens, das dem Asylwerber eine psychische Erkrankung ausdrücklich aufgrund von Folterung bescheinigt, vom Bundesasylamt der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt wurde, dass aber die schwere Folter wegen der unterstellten regimefeindlichen Gesinnung nicht als asylrelevant angesehen wurde. (D9 402442-1/2008 vom 27.10.2010)

Allerdings gibt es auch etliche Asylgerichtshoferkenntnisse, in denen das erstinstanzliche Verfahren als völlig mängelfrei angesehen und die Entscheidung ohne Verhandlung bestätigt wird.

Nicht asylrelevant wird angesehen, wenn keine massiven Verfolgungshandlungen vorgebracht werden, sondern Asylwerber lediglich zu Aktivitäten oder Aufenthalt von Angehörigen befragt wurden und es zu keiner Festnahme oder längeren Anhaltung gekommen ist. So bestätigte beispielsweise der Asylgerichtshof die Annahme, „dass der Beschwerdeführer als Auskunftsperson bezüglich seines Bruders dienen habe sollen und nicht als Person, die im Zentrum des Interesses gestanden habe. Somit sei die Furcht des Beschwerdeführers, ebenso festgenommen, getötet zu werden oder einfach zu verschwinden eine zwar subjektiv nachvollziehbare Angst, jedoch mangele es an konkret gegen ihn gerichteten Verfolgungshandlungen.“ (D12 317999-2/200908.10.2010)

Ablehnung wegen „gesteigertem Vorbringen“

Die Erzählungen von AsylwerberInnen über ihre Bedrohung in Tschetschenien werden in ablehnenden Entscheidungen häufig als widersprüchlich und zu vage, manchmal auch deswegen als unglaubwürdig angesehen, weil bedrohliche Ereignisse oder Vorfälle erst zu einem späten Zeitpunkt vorgebracht werden, sodass sie als gesteigertes Vorbringen gewertet werden.

In Widersprüche in den Fluchtgeschichten verwickeln sich nicht nur die AsylwerberInnen selbst bei den Einvernahmen, sie kommen oft auch durch die Einvernahmen von Familienangehörigen zu Tage.

So sah das Bundesasylamt Widersprüche zu Angaben des Vaters des Asylwerbers – eines seit 5 Jahren anerkannten Flüchtlings in Österreich – und zu jenen des ebenfalls geflüchteten Bruders und glaubte daher nicht, dass er entführt und gefoltert worden war, gemeinsam mit seinem Bruder aber aus der Haft flüchten konnte. Die „Fluchtgeschichte sei derart glatt und durchkonstruiert, wie sie im realen Leben nicht vorkommen“ könne, befindet das Bundesasylamt und meint auch ohne nähere Begründung zu wissen, dass es unglaubwürdig sein, dass der Asylwerber auf eine bestimmte Art gefoltert worden sei.

Für den Asylgerichtshof gehört dieser Asylwerber zu einem Personenkreis, dem von den pro-russischen Sicherheitskräften ein Naheverhältnis zum tschetschenischen Widerstand unterstellt wird, die ihn auch künftig im Hinblick auf Misshandlungen als gefährdet erscheinen lässt. „Die Inanspruchnahme staatlicher Stellen zur Schutzgewährung angesichts des Umstandes, dass der Beschwerdeführer ohnehin einer Verfolgung von den Leuten von Kadyrow ausgesetzt war, wäre nicht zielführend gewesen“ (D13 406712-1/2009 vom 07.10.2010)

Innerstaatliche Fluchtalternative

Bei ablehnenden Entscheidungen kommt auch der Frage, ob es für die verfolgte Person einen sicheren Ort innerhalb des Staatsgebietes gibt (innerstaatliche Fluchtalternative), zunehmend Bedeutung zu. UNHCR lehnt nach wie vor generell eine inländische Fluchtalternative von Tschetschenen in der Russischen Föderation ab. Dieser Ansicht wird auch in zahlreichen Beschwerdeverfahren Rechnung getragen. Neben den „allgemeinen Probleme, die Tschetschenen bei einer Neuansiedlung außerhalb ihrer Heimatrepublik begegnen“ sieht der Asylsenat beispielsweise keine zumutbaren inländischen Fluchtalternative aufgrund der individuellen Situation der Asylwerberin, „die über keinerlei verwandtschaftliche Anknüpfungspunkte außerhalb von Tschetschenien verfügt und es sich bei ihr überdies um eine psychisch beeinträchtigte Frau mit zwei kleinen Kindern handelt,.“ (D3 313080-2/2008 vom 16.11.2010 )

Für eine siebenköpfige Familie erachtete das Bundesasylamt die Flucht zum Bruder, der sich seinen Verfolgern bereits vor Jahren nach Sibirien gerettet hat, für zumutbar, insbesondere nachdem auch der Vater des Asylwerbers zum Bruder nach Sibirien geflüchtet ist. Der Asylwerber kann jedoch erklären, dass seine Familie es wesentlich schwerer hätte, irgendwie durchzukommen als eine Einzelperson. Da ihnen nach seiner Entlassung die Inlandspässe abgenommen worden seien, könnten sie sich auch nicht ordentlich anmelden.

Wie in einigen anderen Fällen wurden die Ausstellung eines Auslandsreisepasses und die legale Ausreise als weiterer Grund angesehen, dass keine Verfolgungsgefahr vorliegt. Auch diesem Einwand konnte der Asylwerber im Beschwerdeverfahren mit dem Argument der Schmiergeldzahlung erfolgreich entgegentreten. (D13 406710-1/2009)

Generell stellt die legale Ausreise mit einem eigenen russischen Pass einen Hinweis auf das Fehlen einer Verfolgungsgefahr dar. Zu einer negativen Beurteilung trägt tendenziell auch bei, wenn Familienmitglieder und Angehörige in Tschetschenien weitgehend unbehelligt leben.

Tschetschenische Frauen

Frauen zählen unter bestimmten Umständen nach Einschätzung des UNHCR zu jenen Gruppen, die einem erheblichen Risiko ausgesetzt sein können.

Der Asylgerichtshof gewährte einer Tschetschenin Asyl, da in der Russischen Föderation Gewalt gegen Frauen weiterhin ein schwerwiegendes Problem darstellt und kaum verfolgt wird. Häusliche Gewalt wird in vielen Fällen als Privatsache angesehen und nicht als Straftat verfolgt. Einer, nach ihrer in Österreich erfolgten Scheidung von ihrem gewalttätigen Ehemann nunmehr de facto alleinstehenden Frau (mit zwei minderjährigen Kindern) gesteht der Asylsenat zu, dass es für sie als Angehörige der tschetschenischen Volksgruppe kaum möglich sei zu überleben, „geschweige denn ihre Kinder zu ernähren, zumal sie auch nicht mit familiär Hilfe rechnen könnte“. Sie konnte die Richter davon überzeugen, dass sie ständiger Bedrohung durch ihre Familie und der Familie ihres Ex-Mannes augesetzt sei, die sie, sobald sie in die Russische Föderation zurückkehren würde, töten und/oder ihr die Kinder wegnehmen würden. Die vom Verwaltungsgerichtshof entwickelten Kriterien geschlechtsspezifischer Verfolgung würden in diesem Fall vorliegen. „Der Begriff umfasst unter anderem die Anwendung von physischer Gewalt gegenüber Frauen im häuslichen Umfeld bzw. in der lokalen Umgebung sowie drakonische Strafen gegen Frauen bei Verstößen gegen religiöse, sittliche oder gesellschaftliche Gebote“ (D11 311802-1/2008 vom 13.09.2010)

Streit um das Sorgerecht für die Kinder nach einer Trennung alleine reicht jedoch für die Asylgewährung nicht aus. Dieser könne auch vor den tschetschenischen Gerichten austragen werden, wird einer alleinstehenden Mutter beschieden.

Abschiebung trotz Verwandtschaft

Bei den tschetschenischen Asylwerbern fällt auf, dass viele Angehörige in Österreich haben, die bereits einen Status erhalten haben. Viele scheitern jedoch im Zulassungsverfahren und werden nach Polen abgeschoben. Auch im inhaltlichen Verfahren ist es erforderlich, eine individuelle Bedrohung glaubwürdig zu machen.

Der Asylgerichtshof räumte in der ablehnenden Entscheidung für die Mutter zwar ein, dass es durchaus plausibel, jedoch nicht asylrelevant sei, dass „sie mit ihren in Österreich als Asylberechtigte aufhältigen, erwachsenen Kindern () zusammen sein wolle. Die Mutter, die mit der seit ihrer Geburt behinderten und deswegen pflegebedürftigen Tochter gekommen war, dürfe jedoch nicht ausgewiesen werden, urteilte der Asylsenat. Da einem ihrer Söhne die Obsorge für die behinderte Tochter obliege, dürfe die Tochter nicht ausgewiesen werden. Die Trennung von Tochter und Mutter stelle gleichermaßen eine Verletzung des Rechts Familienlebens dar. (D4 412663-1/2010 19.10.2010)

Der Fall eines Witwers, der zu seinen in Österreich Asylberechtigten Kindern gekommen ist, verlief weniger glimpflich. Es wurde aus Österreich ausgewiesen, obwohl er bei seiner Tochter lebt, diese sich um ihn kümmert und er regelmäßig seinen Sohn trifft. Der Asylsenat geht davon aus, dass seine Lebensgrundlage in seinem Herkunftsstaat gesichert ist und er trotz seines fortgeschrittenen Alters sein Leben problemlos meistern konnte. „Offensichtlicher Zweck der Ausreise (war) der Nachzug zu seinen Kindern ins Bundesgebiet. In dieser Konstellation stellt das Asylverfahren keinesfalls das geeignete Instrumentarium dar, sondern wird das öffentliche Interesse an einem geordneten Zuwanderungswesen unterlaufen.“ (D15 414920-1/2010 vom 06.12.2010)

Behördlicher Zirkelschluss

Ein Indikator für die „Normalisierung“ in Tschetschenien ist für die Asylbehörden gesunkene Anerkennungsquote in mehreren EU-Staaten und die zunehmende Anzahl der freiwilligen Rückkehrer. Dieses Argument kann wohl nur teilweise zutreffen, da als freiwillige Rückkehr auch eine Situation bezeichnet wird, in der abgelehnte AsylwerberInnen vor die Wahl zwischen Abschiebung und Rückkehr ohne polizeiliche Zwangsmaßnahmen gestellt werden und bei dieser ihnen immerhin etwas Geld mitgegeben wird, damit sie nach der Ankunft nicht völlig mittellos sind – in Österreich € 370,-. Zudem dürften es gar nicht so wenige Fälle geben, wo Flüchtlinge lieber nach Russland zurückkehren als nach Polen. Über die Nachhaltigkeit der freiwilligen Rückkehr gibt es bisher keine Untersuchungen.

Die Fluchtgeschichten der tschetschenischen Flüchtlinge erwecken den Eindruck von Odysseen. Sie sind häufig geprägt von Verfolgungshandlungen, die in die Vätergeneration zurückreichen, von Beteiligung am Widerstand, von kleineren und größeren Unterstützungen für Widerstandskämpfer oder Rebellen, die von den Flüchtlingen selbst oder von Familienmitgliedern geleistet wurden, von getöteten, verschwundenen, wieder freigelassenen, freigekauften, misshandelten Angehörigen, von teilweise unsteter Lebensweise, versteckt bei Verwandten hier und dort, von Zeiten des Exils in Nachbarrepubliken. Diese Zeit hat Wunden geschlagen, seelische und körperliche.

Mag sein, dass sich in den letzten Jahren die allgemeine Situation in Tschetschenien verbessert hat. Aus Sicht vieler Flüchtlinge wohl nicht so weit, dass sie in größerem Ausmaß zurückkehren. Nach wie vor fliehen viele aus Tschetschenen, wenn auch ihre Gründe aus menschenrechtlicher Sicht häufiger als nicht mehr begründet angesehen werden. Wo aber ist der Ort, wo tschetschenische Flüchtlinge sich von diesem Leid erholen können, selbst wenn sie die Voraussetzungen für die Zuerkennung eines Schutzstatus nicht (mehr) erfüllen.

*Anny Knapp ist Obfrau der Asylkoordination Österreich

——————————-


[1] Die Asylstatistik des BMI unterscheidet bei negativem Verfahrensausgang nicht zwischen Zurückweisung wegen Unzuständigkeit oder wegen mangelnder Voraussetzungen für die Asylgewährung.

 

[2] Hinweise des UNHCR zur Prüfung von Anträgen auf internationalen Schutz Asylsuchender aus der russischen Teilrepublik Tschetschenien v. 7.4.2009 samt Ergänzungsbrief vom 11.11.2009




Kommentieren Sie den Artikel





Weitere Artikel von REDAKTION