Asylwerber-Suizidversuche: Alles Täuschung?

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Verzweiflung
  •  Flüchtlingshelfer wie Ute Bock berichten, dass es immer wieder zu Fällen von Hungerstreik, Selbstverstümmelung oder Selbstmordversuchen unter Asylwerbern komme. Auch im Flüchtlingslager Traiskirchen kennt man derartige Fälle – Lagerleiter Franz Schabhüttl bezeichnet sie jedoch als „Modeerscheinung“ und „Erpressungsversuche“.

27.01.2010 | 18:15 | Clara Akinyosoye und Kerstin Kellermann

Selbstverletzungen kommen im Flüchtlingslager Traiskirchen regelmäßig vor. Ein Ausdruck tiefer Depression, sagen Psychologen. Ein billiger Erpressungsversuch, sagt der Lagerleiter.

Eine Bombe fiel auf unser Haus, und meine gesamte Familie wurde getötet“, erzählt der 17-jährige T., der wie ein afghanischer Elvis Presley ausschaut. Ob es sich um eine Bombe der Taliban oder der Amerikaner handelte, weiß er nicht. Mit 16Jahren schlug er sich ganz allein bis vor das Tor der „Betreuungsstelle Ost“ in Traiskirchen durch. Untergebracht wurde er im Haus 9, der Unterkunft für 14- bis 18-jährige unbegleitete Flüchtlinge. Zurzeit leben dort 78 Menschen.

Ein Ort, an dem T. mit einigen dunklen Seiten des Lebens junger Asylwerber konfrontiert wurde: „In meinen zwei Monaten im Flüchtlingslager Traiskirchen erlebte ich insgesamt drei Selbstmordversuche.“ Er sah, dass sich „ein schwarzer Mann aufhängte“. Er erfuhr, dass sich ein afghanischer Bekannter mit Tabletten zu vergiften versuchte. Einmal stürzte sich ein afghanischer Mann aus dem dritten Stock, überlebte aber schwer verletzt. Mit den Jugendlichen, die den Sprung beobachtet hatten, sprach man darüber nicht, erzählt T. Immerhin, es gibt eine Betreuungsstelle für „verhaltensauffällige Personen“, in der Asylwerber „professionelle Ansprechpersonen“ vorfinden, sagt Franz Schabhüttl, Leiter des Erstaufnahmezentrums Traiskirchen.

„Ein bissl aufgeschnitten…“

Doch viele psychische Notfälle, meint Schabhüttl, seien ohnehin nicht echt: „Das war eine Zeitlang eine Modeerscheinung, dass sich einige mit dem Bic-Rasierer ein bissl aufgeschnitten haben, aber ja nicht zu tief.“ Seit 19 Jahren leitet der ehemalige Gendarm das Lager, derartige Selbstverletzungen bezeichnet er als „Erpressungsversuche“. Bis jetzt sei jedenfalls noch keiner dieser Selbstmordversuche tödlich ausgegangen, sagt Schabhüttl – er deutet das als Indiz für seine Erpressungstheorie: „Ist alles vorgetäuscht.“

Flüchtlingsbetreuer Ahmad, der selbst in einem Flüchtlingslager in Syrien aufgewachsen ist, kann das nicht verstehen: „Die Verantwortlichen nehmen das erst ernst, wenn der Flüchtling tot ist.“ Er erzählt, dass es sogar in der behüteten Wohngemeinschaft zu Selbstverletzungen gekommen ist – für ihn ein Beweis, dass es nicht um Erpressung geht. Es sei gefährlich, Selbstmordversuche als Erpressung abzutun, warnt auch der Psychiater Houchang Allahyari. Viele seiner afghanischen Patienten hätten Suizidversuche unternommen. Wer dies kleinrede, „hat keine Ahnung von den medizinischen Indikationen und den Depressionen, die einer Traumatisierung folgen.“ Auf das Tabuthema Selbstmordversuch im heillos überfüllten Lager weist seit Jahren auch Fritz Knotzer hin: Als Rettungsfahrer musste der heutige Bürgermeister von Traiskirchen früher genau aus diesem Grund mehrmals die Woche ausrücken. Er tritt deshalb für kleinere Aufnahmezentren in jedem Bundesland ein.

Klaus Neumann, Leiter des Haus 9 für Jugendliche, erwähnt, er beginne seinen Tag mit einem Blick ins Dienstbuch, um unter anderem nachzusehen, ob nachts die Rettung da war. Ein Verhalten, das nicht ganz mit den Eindrücken des Lagerleiters Schabhüttl zusammenpasst – spricht der doch davon, dass es hier durchwegs friedlich zugehe.

Trauma oder nicht Trauma?

In Lager Traiskirchen arbeiten in etwa 400 Bedienstete, darunter rund 80 Polizisten, 30 Rechtsberater und sieben Psychologen. Aufgabe der psychologischen Betreuer ist es unter anderem, bei Dublin-Fällen Gespräche zur Abklärung von Traumata zu führen. (Von Dublin-Fällen spricht man dann, wenn die Registrierung des Asylwerbers bereits in einem anderen EU-Land erfolgte, das dann auch für sein Asylverfahren zuständig ist.) Allerdings: Ob die Psychologen tatsächlich ein Trauma diagnostizieren oder nicht, hat keinerlei Einfluss auf die bevorstehende Abschiebung. „Wir hatten noch niemanden, der kein Trauma hatte, auch wenn sie nicht wussten, was ein Trauma überhaupt ist“, sagt Schabhüttl mit einem spöttischen Unterton.

Genau diese Art von Misstrauen ist es, über das Asylwerber häufig klagen: „Sie glauben, dass jeder lügt“, meint ein junger Exbewohner von Traiskirchen. Nach seiner ersten Einvernahme bekam der Nigerianer fast zwei Wochen kaum einen Bissen hinunter: „Du erzählst einem Unbekannten dein Leben, und dann sagt man dir sofort ins Gesicht, dass man dir nicht glaubt.“ Natürlich, er ist dankbar für das, was in Traiskirchen für ihn getan wurde. Man hat ihm Unterkunft und Nahrung geschenkt. Nur Vertrauen, das hat man ihm nicht entgegengebracht – und dieses Misstrauen, das merkt man dem 16-Jährigen an, ist für ihn besonders bitter.

„Es ist nicht meine Aufgabe, zu prüfen, ob einer die Wahrheit sagt“, sagt Jugendhausleiter Neumann. Man müsse sich damit abfinden, dass sich durch die Gesetzeslage in der Betreuungsstelle ein ständiges „Kommen und Gehen“ ergibt. Neumann unternimmt jedenfalls regelmäßig Ausflüge mit den Jugendlichen – wenn man sonst nicht mehr für sie tun könne, dann „haben sie zumindest ihren Horizont erweitert, ein bisschen Deutsch oder Englisch gelernt und erkannt, wie die Realität in Österreich ist.“

(CLARA AKINYOSOYE und KERSTIN KELLERMANN , „Die Presse“, Print-Ausgabe, 27.01.2010)


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